Ulmi et al.: Wer hat’s gefunden?

Ulmi, Marianne, Gisela Bürki, Annette Verhein und Madeleine Marti (2014): Textdiagnose und Schreibberatung. Fach- und Qualifizierungsarbeiten begleiten. Opladen und Toronto: Verlag Barbara Budrich (UTB).

Preis: 26,99 Euro

Überblick über den Inhalt:

1     Text, Autorin und Leser

2     Textdiagnose und Weiterentwicklung des Textes

3     Wissenschaftliches Schreiben

4     Handreichung zur Schreibberatung

5     Übersicht: Probleme und Lösungsoptionen

 

Cover_Ulmi

Ulmi et al.: Wer hat’s gefunden?

Mit diesem Buch der vier Schweizer Schreibdidaktikerinnen finden Sie wirklich alle Schwachstellen oder, positiv formuliert, die Potenziale eines Textes. Versprochen! Es kostet nur etwas Mühe.

Den ersten Teil des Buches widmen die Autorinnen dem Dreieck „Text, Autorin und Leser“ und beschreiben die auf allen Seiten vorhandene Komplexität. Denn nicht nur wer Texte verfasst, muss jede Menge gedankliche Arbeit leisten, sondern auch diejenigen, die sie lesen.

Im Zentrum des Buches steht der zweite Teil, die Textdiagnose und Weiterentwicklung des Textes. Der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegende, meist noch unfertige Text wird mit Hilfe des hierarchisch aufgebauten Bietschhorn-Modells gründlich untersucht. Als Namensgeber wählten die Autorinnen einen Berg der Walliser Alpen, den es nun also zu erklimmen gilt. Dabei kommen die higher-order concerns vor den lower-order concerns. Der Weg geht vom Inhalt über die Komposition zur sprachlichen Oberfläche:

  • Schicht 1: Inhalte
  • Schicht 2: Thematische Entwicklung
  • Schicht 3: Informationsdichte und außertextliche Bezüge
  • Schicht 4: Leseführung
  • Schicht 5: Sprache
  • Schicht 6: Textsortenspezifische Anforderungen

Die Autorinnen beschreiben für jede dieser Schichten sehr umfangreich und anhand von Beispielen die typischen Probleme und die dazugehörigen Lösungsoptionen. Das ist einerseits wirklich hilfreich, andererseits fast schon ein bisschen überfordernd. Ein unbequemer Gedanke taucht auf: „An all das soll ich denken, wenn ich mich mit einen Text befasse?“ Am Ende des Buches werden zur besseren Orientierung auf einer Seite pro Schicht alle Probleme und Lösungen zusammengefasst. Das hilft schon mal ein wenig weiter.

Teil 3 thematisiert die Anforderungen an wissenschaftliches Schreiben. Das wäre eigentlich nichts Neues, aber hier findet eine sehr tiefe Auseinandersetzung statt. Was macht einen guten wissenschaftlichen Text aus, was die Wissenschaftssprache? Besonders spannend finde ich das Unterkapitel „Wissenschaftliches Schreiben und fachliches Lernen“. Es geht unter anderem um die Kluften zwischen Anspruch und Umsetzbarkeit (beispielsweise um die immer wieder geforderte Objektivität, die ja eigentlich nie erreichbar ist) und um den Text als Indikator für den Lernstand. Da habe ich Inhalte gelesen, die mich als Lehrende des Wissenschaftlichen Arbeitens noch einmal ein großes Stück weiterbringen.

Teil 4 gibt den Lesern in aller Kürze die wesentlichen Prinzipien für die Schreibberatung (oder besser Schreibbegleitung) an die Hand.

Deutliche Worte

Insgesamt gefällt mir sehr gut, wie reflektiert und kritisch Ulmi et al. das Thema angehen. Nicht nur die Detailgenauigkeit ihrer Betrachtungen ist bemerkenswert, sondern vor allem auch die klaren Worte, die die Autorinnen finden. Ich mag es, wenn jemand offen ausspricht, was andere nur denken. Der Abschnitt über das Ich-Tabu in der Wissenschaft (S. 168 ff.) kann als Beispiel dafür dienen.

Welchen Studierenden kann man das Buch empfehlen?

Bei Studierenden sehe ich das Buch nicht so sehr im Einsatz. Gerd Bräuer schreibt zwar in einer Rezension: „Durch eine durchweg pragmatisch angelegte Darstellung von Text- und Schreibprozess-Theorie funktioniert dieses Buch auch als Lektüre für Schreibende, die verstehen wollen, wie ein Text im Kommunikationsgefüge von Autor/in, Medium und Adressat/in funktioniert.“ Das setzt jedoch ein sehr großes Interesse am Thema Schreiben voraus. Für 0815-Studierende, die einfach nur ihre wissenschaftlichen Arbeiten verfassen möchten, wäre der Aufwand viel zu groß. In Bezug auf andere Schreibende hat Bräuer aber sicher recht, diese können stark von dem Buch profitieren.

Was bringt es für den Einsatz in der Lehre?

Neben den grundlegenden Erkenntnissen, die ich aus den Kapiteln 1, 3 und 4 gezogen habe, hilft mir selbstverständlich auch Kapitel 2 weiter. Durch die vielen Beispiele zu den einzelnen Schichten des Modells wird sehr gut deutlich, wie diese zum Funktionieren eines Texts beitragen. Ich kann mir gut vorstellen, ausgewählte Aspekte in die Lehre einfließen zu lassen.

Den Hauptnutzen des Modells sehe ich jedoch nicht der Lehre, sondern in der Betreuung einzelner Studierenden beim Verfassen ihrer Texte.

Bei Schreibberatern ist eher davon auszugehen, dass sie sich bereits intensiv mit den Inhalten der Schichten befasst haben. Berichte aus der Praxis würden mich sehr interessieren. Denn ich stelle mir die Beratung anhand des Bietschhorn-Modells als (zeit-)intensives Durcharbeiten einzelner oder mehrerer Schichten vor. Vielleicht kommt man mit etwas Übung aber auch schneller zu den wirklich wichtigen Aspekten, als es ohne das Modell der Fall wäre.

Normalsterbliche Fachlehrende müssten eine Menge Zeit investieren, um alle Schichten hundertprozentig zu durchdringen. Viele werden sich jedoch diese Zeit nicht nehmen wollen, um sich in ein von ihnen als Randgebiet empfundenes Thema einzuarbeiten. Es bedürfte also einer Art „Übersetzung“ oder Vereinfachung, um das Modell der breiten Masse an Hochschuldozierenden zugänglich zu machen. Dann könnten auch die Fachlehrenden am Ende die Frage nach dem „Wer hat’s gefunden?“ positiv beantworten.

 

Herzlichen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar!

 

Update 28.04.2016

Ergänzend noch zwei nützliche Links mit Informationen zum Bietschhorn-Modell zum Herunterladen:

PH Bern

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2 Kommentare zu “Ulmi et al.: Wer hat’s gefunden?

  1. Liebe Frau Klein,

    diese wunderbare Rezension zu einem unserer Bücher freut uns natürlich sehr. Ihre Anregungen und auch Ihr kritischer Blick auf einzelne Kapitel und das Gesamte sind sehr hilfreich.
    Vorstellen möchte ich Ihnen heute ein anderes, intuitiv zu erfassendes Lehrmittel aus dem Verlag Barbara Budrich / der utb.
    Unter folgendem Link finden Sie den Schreibimpulfächer, entwickelt von Ingrid Scherübl und Katja Günther, der sich ganz bestimmt auch für Ihre Arbeit eignet.

    https://shop.budrich-academic.de/produkt/der-schreibimpulsfaecher/?v=3a52f3c22ed6

    Haben Sie Interesse an einem Rezensionsexemplar des Fächers? Oder möchten Sie als Multiplikatorin fungieren, die den Fächer in Ihrer Arbeit einsetzt?
    Über Ihre Rückmeldung würde ich mich sehr freuen!

    Herzliche Grüße
    Corinna Hipp

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