Vor ein paar Monaten sprach ich am Rande einer Lehrveranstaltung mit einem Studierenden über die Pläne für mein zweites Buch. Thema: Wissenschaftliches Arbeiten im dualen Studium. Er tat mein Vorhaben ab: „Wissenschaftliches Arbeiten im dualen Studium? Da sind Sie ja schnell fertig mit dem Schreiben. Das braucht man nicht, das ist sowas von überflüssig.“
Zum Glück lasse ich mir ja meinen Enthusiasmus nicht so schnell nehmen, und zum Glück weiß ich auch, dass seine Aussage in dieser Form einfach nicht stimmt. Aber seit ich in dualen Studiengängen lehre, kenne ich ähnliche Gedanken, die Studierende in den Lehrveranstaltungen „Wissenschaftliches Arbeiten“ äußern, wie etwa: „Hätte ich Wissenschaftler werden wollen, hätte ich doch gleich klassisch an der Uni studiert!“
An Dualen Hochschulen und Berufsakademien kursiert übrigens der folgende Witz:
Sagt der Uni-Bachelor in der Master-Einführungsveranstaltung zum Dualen Bachelor: „Oh je, wissenschaftliches Arbeiten, da habe ich keinen Plan…“. Sagt der duale Student: „Was, echt? Das habe ich gleich ab dem ersten Semester gelernt!“
Eine verkehrte Welt, oder? (Dazu auch interessant: Unterrichten wir zu viel Wissenschaftliches Arbeiten?). Ich finde, es ist an der Zeit, mit dem alten Vorurteil aufzuräumen, dass ein duales Studium „unwissenschaftlich“ ist.
Der wissenschaftliche Anspruch in einem dualen Studium
Der Wissenschaftsrat hält in seinen „Empfehlungen zur Entwicklung des dualen Studiums“ fest:
„Ziel des dualen Studiums ist eine Doppelqualifizierung der Absolventinnen und Absolventen mit wissenschaftlichem Anspruch. […] Der Praxisbezug darf nicht die Qualität der wissenschaftlichen Ausbildung beeinträchtigen. Das duale Studium soll die Absolventen befähigen, innovativ und kreativ auf neue Problemstellung zu reagieren und kritisch urteilen zu können. […] Wissenschaftliche Kernkompetenzen sorgen für Innovations-, Anpassungs- und Weiterbildungsfähigkeit der künftigen Mitarbeiter, also für Eigenschaften, die für technologische Veränderungen und die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen/Einrichtungen von großer Bedeutung sind.“ (Wissenschaftsrat 2013, S. 29).
Und weiter:
„Bei der Gewährleistung wissenschaftlicher Mindestanforderungen gilt es für die Hochschulen/Berufsakademien, den Balanceakt zu bewältigen, eine höhere Praxiskompetenz zu befördern und gleichzeitig breite wissenschaftliche Methoden- und Grundlagenkenntnisse zu vermitteln, die über die unmittelbaren Kompetenzbedarfe der Unternehmen hinausgehen.“ (Wissenschaftsrat 2013, S. 31 f.)
Der generelle wissenschaftliche Anspruch des dualen Studiums ist damit festgeschrieben. Die Vermittlung von wissenschaftlichen Grundlagen- und Methodenkenntnissen unterscheidet das Studium von einer Ausbildung, und im Vergleich zu einem klassischen Studium soll der Praxisbezug hinzukommen, ohne die Qualität der wissenschaftlichen Ausbildung zu beeinträchtigen.
Kann das funktionieren? Wie kann man denn etwas hinzufügen, ohne das Vorhandene entsprechend zu reduzieren? Erstens: Das geht sehr gut, wenn man die Gesamtarbeitsbelastung erhöht. Die jüngsten Erhebungen ermitteln etwa 50 Stunden pro Woche für Studium und Beruf in dualen Studienmodellen gegenüber 41 Stunden im klassischen Vollzeitstudium (BMBF 2017, S. 60). Ob das gut so ist, seit einmal dahingestellt.
Zweitens: Das geht auch dann hervorragend, wenn man das Vorhandene modifiziert und mit dem Neuen verbindet. Et voilà, schon haben wir das duale Studienmodell. Durch Verknüpfung des wissenschaftlichen Arbeitens mit dem Praxisbezug entsteht ein neuer Weg. In dualen Studiengängen braucht es daher eine modifizierte Art des wissenschaftlichen Arbeitens, die es erlaubt, die Praxis zu integrieren.
Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Lehre
Wer in der Lehre in einem dualen Studiengang nach seinem 08/15-Konzept „Wissenschaftliches Arbeiten“ vorgeht, wird damit zwar einigermaßen weit kommen und den Studierenden sicher auch wichtige Inhalte auf ihrem Weg mitgeben. Aber der Kern der Sache bleibt leider unbeachtet. Das zeigt sich dann in den vielen speziellen (und berechtigten!) Fragen, die die Studierenden im Laufe der Stunden stellen werden.
Die Gemeinsamkeiten zu den gewöhnlichen Lehrveranstaltungen beinhalten selbstverständlich die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens wie akademische Redlichkeit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit usw. sowie das Arbeiten mit wissenschaftlicher Literatur. Auch der Schreibprozess gestaltet sich nicht wesentlich anders (das Überarbeiten hingegen schon, da hier der Praxispartner auch Ansprüche an den Text stellt).
Im dualen Studium stoßen die Studierenden jedoch auf Schwierigkeiten, die im klassischen Studienmodell selten oder nie auftauchen, und auf Ungewöhnliches, das in den herkömmlichen Ratgebern nicht abgedeckt ist. Deswegen ist es umso wichtiger, diese Themen in der Lehre anzusprechen.
Beginnen wir bei den Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Schreibens im dualen Studium:
- Es liegen ein anderes Forschungsverständnis und ein anderer Forschungsansatz zugrunde: die Praxisforschung.
- Es ist notwendig, eine Theorie-Praxis-Verknüpfung herzustellen und einen Transfer zu leisten.
- Eine zusätzliche Wissensart fließt in die Arbeiten ein: das Praxiswissen.
- Die Arbeiten richten sich an einen doppelten Adressaten: Die Texte werden an der Hochschule und beim Praxispartner gelesen.
Auch bei der Gestaltung des Texts sind zusätzliche Aspekte zu beachten:
- Welche Arten von wissenschaftlichen Arbeiten gibt es im dualen Studium?
- Wie ist der korrekte Umgang mit Informationen des Praxispartners?
- Welche Arten der Gliederung eignen sich für die Verknüpfung von Theorie und Praxis?
Aus der Prozessperspektive bleiben schließlich zu erwähnen
- die veränderte Zeitplanung und
- das Überarbeiten im Zusammenspiel mit dem Praxispartner.
In diesem Artikel möchte ich mir eine sehr wichtige Rahmenbedingung herausgreifen, die Notwendigkeit der Theorie-Praxis-Verknüpfung.
Duale Arbeiten verknüpfen Theorie und Praxis
Ohne Zweifel ist die viel zitierte Theorie-Praxis-Verknüpfung die Besonderheit des dualen Studiums und zugleich eine riesige Herausforderung für alle Beteiligten.
Das Verständnis dafür, was „Theorie“ überhaupt ist, muss dabei mit den Erstsemestern erst einmal aufgebaut werden. Oftmals wird unter „Theorie“ eben das verstanden, was in Büchern steht. Der ganze theoretische Kram eben, Sie wissen schon. Alles, was nicht unmittelbar mit Praxis und eigenem Handeln zu tun hat, muss ja wohl Theorie sein. Eher allgemein gehaltene Aussagen sind „Theorie“. Letztlich ist „Theorie“ in dieser Sichtweise weltfremd und nutzlos. Man beschäftigt sich damit, weil es das Curriculum so vorsieht.
Ein wenig verhält sich das wie in der Fahrschule, in der man Theoriestunden und Fahrstunden nimmt. Bei Ersteren wird in klassischem Unterricht Basiswissen über den Straßenverkehr gepaukt mit dem Zweck, die Prüfung zu bestehen. Danach „darf“ man das in weiten Teilen wieder vergessen, denn „in der Praxis ist eh vieles anders“.
Der Begriff „Theorie“ im wissenschaftlichen Sinn muss daher in den Lehrveranstaltungen erst aufgebaut und gefestigt werden, bevor der gute alte Lewin bemüht werden darf: „There is nothing so practical as a good theory.“ (Lewin 1951, S. 169). Diese Aussage erschließt sich den Studierenden in den seltensten Fällen direkt und bietet somit einen guten Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen.
Ähnliches gilt für den Satz „Theorien sind […] Handlungs- und Praxisinstrumente.“ (Fichten 2012, S. 17). Es ist nach Fichten eine „Rückübersetzung“ zu leisten: Die entsprechenden Theorien müssen auf die praktischen Probleme (rück)bezogen werden, für die sie passend erscheinen und für die sie ursprünglich entwickelt wurden. Fichten bezieht das auf das forschende Lernen, für das duale Studium passen das ebenso.
Umsetzung in den Texten
Die so verstandene Theorie-Praxis-Verknüpfung durchzieht im Idealfall den kompletten Text und soll sich selbstverständlich auch in einer aussagekräftigen Gliederung niederschlagen. Aus der Gliederung eines solchen Texts ist neben dem logischen Aufbau und der Gewichtung der Textteile auch die besondere Art der Fragestellung ersichtlich.
Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, um die Verknüpfung darzustellen: mit einer Blockgliederung oder mit einer alternierenden Gliederung. (Das IMRAD-Modell für bestimmte empirische Arbeiten lassen wir einmal außen vor.). Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. In der Lehre gilt es daher, mit den Studierenden gemeinsam zu erarbeiten, welche Art der Gliederung für ihre Fragestellung passender erscheint. Aber auch der Schreibprozess sollte beleuchtet werden. Beim Schreiben fällt es vielen Studierenden – so meine Erfahrung der vergangenen Jahre – deutlich leichter, nach dem Blockmodell vorzugehen. Dabei werden im ersten Block die theoretischen Inhalte dargestellt und im zweiten die praktischen. Dieses Vorgehen erscheint einfacher, weil „man ja die Theorie einfach nur zusammenschreiben muss“, sprich einfach schon einmal mit dem Schreiben loslegen kann. Letztlich kommt es dann sehr stark auf die Überarbeitungsphase an, so dass nicht Theorie und Praxis unverbunden nebeneinanderstehen, sondern sich die beiden Blöcke wirklich stimmig zueinander verhalten.
Verkehrte Welt
Nach nunmehr zehn Jahren Lehre und Betreuung im dualen Studium komme ich zu dem Schluss: Wissenschaftliches Arbeiten im dualen Studium ist garantiert nicht überflüssig und schon gar nicht einfacher als anderswo.
Das eingangs erwähnte Buch ist übrigens mittlerweile fertiggestellt und im Handel erhältlich:
Klein, Andrea (2018): Wissenschaftliches Arbeiten im dualen Studium. München: Vahlen.
Literatur
BMBF (2017): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Bonn und Berlin: o.V.
Fichten, Wolfgang (2012): Über die Umsetzung und Gestaltung Forschenden Lernens im Lehramtsstudium. Verschriftlichung eines Vortrags auf der Veranstaltung „Modelle Forschenden Lernens“ in der Bielefeld School of Education 2012. In: Schriftenreihe Lehrerbildung in Wissenschaft, Ausbildung und Praxis, Hrsg. Didaktisches Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Internetquelle abgerufen unter https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/diz/download/Publikationen/Lehrerbildung_Online/Fichten_01_2013_Forschendes_Lernen.pdf.
Lewin, Kurt (1951). „Problems of Research in Social Psychology“. In: Field Theory in Social Science. Selected Theoretical Papers, Lewin, Kurt und Dorwin Cartwright (Hrsg.), New York: Harper & Row.
Wissenschaftsrat (2013): Empfehlungen zur Entwicklung des dualen Studiums. Positionspapier. Drs. 3479-13, Mainz: o.V. Internetquelle abgerufen unter https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2479-13.pdf.
Weiterführende Links
Antwort an Leonie: Die besondere Situation im dualen Studium