Haben Sie schon einmal so richtig absichtlich plagiiert? – Ok, Sie waren bestimmt jung und brauchten den Schein (= die Leistungspunkte).
Und haben Sie schon einmal unabsichtlich plagiiert? Wissen Sie nicht? Mir ist es passiert, und ich wusste es natürlich auch erst einmal nicht.
Die deutsche Sprache hält für solche Situationen ein schönes Wort bereit: Tja. Es ist kein schönes Gefühl, ein Plagiat zu entdecken. Wenn es sich dann noch um ein eigenes handelt: Tja. Ein geknicktes Tja. Ein „Tja, und nun?!?“-Tja.
Die ganze Angelegenheit hatte aber auch etwas Gutes, und zwar für die Lehre.
Nähern wir uns der Sache doch einmal chronologisch an.
Und das geschah so…
- Anfang 2016:
Auf der Suche nach Impulsen für die Lehre lese ich Passagen aus „Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf“ von Andrea Frank, Stefanie Haacke und Swantje Lahm (2013, 2. Aufl., Stuttgart: Metzler). Eine richtig intensive Lektüre ist das zu der Zeit nicht, dazu stehen zu viele andere Themen auf meinem Plan. - Mitte März 2016:
In einer E-Mail an eine der Autorinnen schreibe ich:
„Ihr Buch ‚Schlüsselkompetenzen‘ habe ich übrigens, wie der Zufall es will, gerade hier liegen und konnte schon viel Nützliches für meine Arbeit mit den Studierenden herausziehen.“ - Ende Mai 2016:
Ein Gastbeitrag von mir erscheint auf dem Blog von Daniela Keller (http://www.statistik-und-beratung.de/2016/07/ueberarbeiten-vom-aufraeumen-zum-dekorieren/). Darin nutze ich das Bild des Aufräumens, um zu verdeutlichen, wie Studierende beim Überarbeiten ihrer Texte sinnvollerweise vorgehen sollten. - Ende August 2016:
Als ich an einem ruhigen Home Office-Tag so vor mich hinarbeite, nehme ich das Buch „Schlüsselkompetenzen“ erneut zur Hand. Mir fährt der Schreck in die Glieder. Da lese ich etwas von „Überarbeiten als Aufräumen“ (S. 67). Genau so habe ich meinen Gastbeitrag genannt und dabei sogar noch „von grob zu fein“ zum Motto erhoben! Genau so, wie es Frank, Haacke und Lahm es formuliert haben.
Hilfe! Wie peinlich!
Mein Herz rast. Ich schaue noch mal genau in das Buch. Das steht da wirklich. Ich schaue meinen Gastartikel an. Auch da steht das. Wirklich. Meine Gedanken überschlagen sich.
Was tun? Und überhaupt: Wie konnte das passieren? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Stelle im Buch noch nicht gelesen hatte, als ich den Gastartikel verfasst habe.
Oder? Bin ich mir da wirklich sicher? Bei meiner Lesemenge ist es gut möglich, dass ich es nur überflogen, aber gar nicht richtig wahrgenommen habe und dann später als vermeintlich eigene Idee verfolgt habe. Zumal ich in dem Moment ja nicht im „Wissenschafts-Modus“ war. Dann gehe ich sorgfältiger vor und mache mir parallel zum Lesen Notizen oder fertige gleich ein ordentliches Exzerpt für meinen Zettelkasten an.
Wenn ich hingegen auf der Suche nach Ideen für die Lehrveranstaltungen bin, ist es wahrscheinlicher, dass ich beim scannenden Lesen auch Inhalte streife, die ich in dem Moment gar nicht suche, und denen ich daher keine große Beachtung schenke.
Später setzt ein anderer Gedanke ein: Könnte es nicht sein, dass ich selbst und eigenständig die gleiche Idee wie die drei Autorinnen hatte? Vielleicht handelt es auch einfach eine naheliegende Metapher. Kolleginnen und Kollegen bestätigen mir das: Aufräumen und Überarbeiten haben tatsächlich viel gemeinsam, die Übertragung bietet sich nun einmal an. Wie dem auch sei, im Lichte meiner E-Mail von Mitte März 2016 („und konnte schon viel Nützliches für meine Arbeit mit den Studierenden herausziehen“) musste auch eine solche Erklärung unglaubwürdig klingen.
Letztlich kann ich nicht mehr zu 100 Prozent nachvollziehen, wie das alles zustande kam.
Was tun?
Ich trete die Flucht nach vorne an, denn ich will die Sache aus der Welt schaffen. Auf meine ziemlich zerknirschte E-Mail, wiederum an die eine der Autorinnen, mit der ich schon in Kontakt stand, folgt eine schnelle Antwort. Ein Auszug:
„Ich sage auch immer Studierenden: wir bemühen uns um Redlichkeit, aber im Rahmen dessen, was möglich ist. Und das, was Sie beschrieben haben (hab ich’s selbst erdacht oder woanders her) kennt sicherlich jede/r.“
Erleichterung und Entspannung setzen ein. Puh.
Eine Lehre für die Lehre
Neue Fragen tauchen auf.
Muss ich als Lehrende nicht mit gutem Beispiel vorangehen? Gerade wenn ich „Wissenschaftliches Arbeiten“ unterrichte? Und dann steht da ein Gastartikel mit einem solchen No-Go auf einer gut besuchten Website für die ganze (deutschsprachige) Welt sichtbar.
Würden nicht über kurz oder lang Studierende an mich herantreten und sagen „Sie, Frau Klein, das haben Sie aber schön abgeschrieben! Hätten Sie da nicht die Quelle angeben müssen? Hätten Sie nicht wissen müssen, dass das eine fremde Idee war? Hätten Sie das nicht prüfen müssen?“
Meine Gegenfrage wäre gewesen: „Ja, wie denn? Wie soll ich denn so etwas prüfen?“
Da sind wir genau an dem Punkt, an dem ich umgekehrt mit den Studierenden in der Lehrveranstaltung stehe. Manchmal fragen sie mich: „Woher soll ich denn wissen, ob die Inhalte, die ich in meinem Text niederschreibe, nicht schon mal jemand anders irgendwann geschrieben hat?“ Das ist, so meine Standardantwort, zunächst eine Frage der Belesenheit: Wie gut kenne ich mich in meinem Gebiet aus? Je mehr ich lese, desto besser kann ich wissen, welche Gedanken schon gedacht und vor allem schriftlich festgehalten wurden. Erstsemester sind hier im Nachteil gegenüber Studierenden, die bereits an der Abschlussarbeit sitzen. Sie bauen diese Belesenheit erst auf.
Ein weiterer Aspekt ist die Arbeitsweise mit der Literatur. Der Arbeitsprozess selbst kann auch „plagiatsgefährdet“ sein, wie Ulmi et al. schreiben (2014, Textdiagnose und Schreibberatung, Opladen & Toronto: Budrich, S. 216): „Die Autorin liest viel, schreibt vielleicht auch ein Journal, schreibt eigene Gedanken zum Gelesenen auf und entdeckt neue Zusammenhänge. Diese aber sind möglicherweise ganz ähnlich wie jene, die in einem früheren Text schon gestanden haben, nur hat die Autorin sie aufgrund ihres damaligen Wissensstandes noch nicht aufnehmen können – und jetzt kommen ihr die damaligen Erklärungen gewissermaßen als eigene Einsichten daher.“ Hier liegt es also an uns Lehrenden, wie wir lesen lehren.
Für die Lehre war mir die Angelegenheit eine Lehre. Denn es mag sein, dass ich vor diesem Vorfall auf einem hohen Ross saß, was die Quellenangaben anging. Ich dachte: Natürlich weiß man, was man woher hat, und gibt dann einfach die Quelle an. Mittlerweile bin ich deutlich offener für die Schwierigkeiten der Studierenden.
Die Aufmerksamkeit steigt beträchtlich, wenn ich diese Geschichte in der Vorlesung erzähle. Nun kann ich Ihnen jedoch schlecht raten, selbst ein Plagiat zu fabrizieren, um dieses dann zu Lehrzwecken zu verwenden. Sie dürfen daher gern meine Geschichte verwenden, wenn es der Sache dient.
Zum guten Schluss noch ein Hinweis: Die Überschrift dieses Blogartikels bezieht sich auf den sehr lesenswerten Artikel von Margaret Price (2002): „Beyond ‚Gotcha‘: Situating Plagiarism in Policy and Pedagogy“ in College Composition and Communication, Vol. 54, No.1. Ein wichtiger Punkt darin ist, dass die saubere Verarbeitung von Literatur den Studierenden nicht qua Leitfaden vermittelt werden kann, sondern nur in einem längeren Prozess des gemeinsamen Lernens und Schreibens.
Ein wunderbares Lehrstück, Andrea! Danke für Deinen Mut dieses Erlebnis zu teilen! Ich hoffe, es nehmen sich viele ein Vorbild und überdenken ihre Lese- und Schreibgewohnheiten auch einmal gründlich!
Nein, es ist echt nicht schön ein Plagiat zu entdecken, das kann ich bestätigen. Mir geht es nach 6 Jahren immer noch nahe. Aber die oft künstlich hohe Aufregung darum macht es eben auch nicht besser – mehr Verständnis für die Entstehungsgeschichten sind nötig, bin ich ganz Deiner Meinung. Weil es eben so schnell passieren kann, dass man was vermeintlich Eigenes woanders schon einmal gelesen hat. Danke!
Liebe Natascha,
danke für Deinen Kommentar. „Künstlich hohe Aufregung“ trifft es ziemlich gut, gerade wenn es etwa um Erstsemester geht, die sich an das wissenschaftliche Schreiben herantasten. Da fände ich etwas mehr Fingerspitzengefühl bei den Verantwortlichen oft angebracht.
Liebe Frau Klein,
erst einmal vielen Dank für Ihren Mut und Ihre Offenheit, so offensiv mit Ihrem eigenen (unabsichtlichen) Plagiat umzugehen!
Das, was Sie beschreiben, klingt sehr nach dem Phänomen der Kryptomnesie (Brown, Alan S. & Dana R. Murphy (1989): Cryptomnesia: Delineating inadvertent plagiarism. In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 15 (3), 432–442. DOI: 10.1037/0278-7393.15.3.432.), vor dem ich mich selbst auch fürchte bzw. von dem ich vermute, dass es mich selbst auch schon „heimgesucht“ hat.
Ich habe mir Ihren Artikel gleich in Citavi gespeichert und einen Vermerk gemacht, Ihn auf alle Fälle in meinem Methodenseminar im kommenden Semester zu besprechen und auch in einem hochschuldidaktischen Workshop zum Thema Plagiatsprävention zu verwenden.
Herzlichen Dank noch einmal!
Mit vielen Grüßen
Stefanie Pohle
Liebe Frau Pohle,
herzlichen Dank für diese neue Vokabel in meinem Wortschatz. Den Artikel über Kryptomnesie schaue ich mir sicher demnächst an.
Liebe Frau Klein,
wow, ein beeindruckender Artikel! Sehr mutig und extrem hilfreich. Toll, dass Sie im Nachhinein noch so gut nachverfolgen konnten, was auf dem Weg passiert war. Ich schwanke in der Tat auch immer bei der Studierendenfrage, die Sie ja auch beschreiben. Und zwar nicht nur, weil man Dinge lesen und das wieder vergessen kann (also die Tatsache, dass man es gelesen hat). Sondern weil es in meinem Fach, der neutestamentlichen Exegese, relativ häufig „Entdeckungen“ gibt, die ich an einem Bibeltext mache, die schon vor mir gemacht wurden. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass das meiste schon mal gesehen wurde. Dennoch ist es ja eine legitime eigene Entdeckung. Ich löse das dann so und sage es auch den Studierenden, dass sie bei einer Übereinstimmung mit Literatur diese als Übereinstimmung („So auch …“) mit ihrer eigenen Beobachtung angeben sollen, aber dass sie keineswegs so tun müssen, als hätten sie den Gedanken aus der Literatur – wenn es nicht so ist!
Herzlichen Dank nochmals und viele Grüsse, Friederike Kunath
Liebe Frau Kunath,
das halte ich für einen sehr guten Umgang mit dem Phänomen. Es muss natürlich von der Fachkultur her und dem Anspruch der eigenen studentischen Entdeckung passen, damit es nicht unrealistisch daherkommt. Ich merke mir daher auf jeden Fall Ihre Antwort, um sie im passenden Kontext weiterzugeben. Danke dafür!