Günther: Zwerge auf den Schultern von Zwergen?

Günther, Klaus (2018): Das Hirn der Studierenden: Dialogisches Lernen statt obrigkeitlicher Lehre. Opladen und Toronto: Verlag Barbara Budrich.

19,99 Euro

Inhaltsübersicht:

Einführung

I Der Kontext des Lernens in Geschichte und Gegenwart

II Neurobiologische Grundlagen des Lernens

III Allgemeine Lern-Konstellation

IV Spezielle Lern-Konstellation im Vorlesungsbetrieb

V Neurobiologisch informiertes dialogisches Lernen – traditionell und digital

Schlussbilanz

 

Zwerge auf den Schultern von Zwergen?

Der Titel des Buches sprach mich direkt an, als ich ihn in der Verlagsvorschau entdeckte. „Das Hirn der Studierenden“ – da klang für mich mit, dass mir Einblicke in die Denkweise eines typischen Studenten gestattet werden und dass ich meine eigenen Erfahrungen aus dem Kontakt mit Studierenden vielleicht schwarz auf weiß bestätigt bekomme. Neurobiologie und vor allem Neurodidaktik halte ich für hochinteressante Themen, über die ich als Lehrende nicht genug wissen kann.

Der Autor, Dr. habil. Klaus Günther, lehrte an der Universität Bonn Politikwissenschaft. Im Ruhestand widmet er sich nun unter anderem der Funktionsweise des Hirns. Das Vorgängerbuch aus dem Jahr 2016 behandelt z.B. das Hirn der Fußballprofis. Jetzt also geht es aber um das Hirn der Studierenden. Die Grundthese des Autors lautet: Die an deutschen Hochschulen immer noch dominierende klassische Vorlesung führt zu geringen Lernerträgen. Diese Frontallehre (oder auch „obrigkeitliche Lehre“) wird gleichgesetzt wird mit so genannter „Fernkommunikation“. Dieser wiederum mangelt es an „emotionaler Schubkraft“ und „empathischer Nähe“. Aufgrund der Beschaffenheit des menschlichen Gehirns fällt es dann schwer, die aufgenommenen Informationen ins Langzeitgedächtnis zu überführen.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Nach der Einführung versucht das (sehr kurze) erste Hauptkapitel, das Lehrformat Vorlesung in die bundesrepublikanische Hochschultradition einzuordnen. So richtig los geht es dann im zweiten Kapitel, in dem die neurobiologischen Grundlagen des Lernens dargestellt werden. Dies geschieht, ohne allzu sehr in die Biochemie abzudriften und ist daher auch für Laien sehr gut verständlich. Das dritte Kapitel greift die Neurobiologie erneut auf, wenn es um die Macht der Lehrenden und die „Winzigkeit“ der Studierenden (dazu gleich mehr) in der allgemeinen Lern-Konstellation geht. Die spezielle Lernkonstellation im Vorlesungsbetrieb ist dann das Thema des vierten Kapitels. Dort werden auch verschiedene Vorlesungstypen wie etwa der „Idealtyp charismatischer Faszination“, der „Vorlesungs-Typus snobistischer Fachidiotie“ und der „Idealtyp des Infotainments“ durchaus amüsant voneinander abgegrenzt. Das fünfte Kapitel schließlich betrachtet verschiedene traditionelle und digitale dialogische Lernformen aus neurobiologischer Perspektive.

Die Winzigkeit der Studierenden beim wissenschaftlichen Arbeiten

Beispiele zur misslungenen Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten finden sich unter der Überschrift „Warten auf die Professorin und den Professor“. In diesem Abschnitt wird von Studierenden berichtet, denen in Sprechstunden kaum Zeit zugestanden wird, über ihre Arbeiten zu sprechen (bekanntermaßen kein Einzelfall). Andere Studierende erhaltene monatelang keinerlei Rückmeldung auf eine Hausarbeit (der Normalfall?) und müssen diese schlussendlich erneut einreichen, weil sie nicht mehr auffindbar sind (hoffentlich eine Ausnahme). Die Studierenden werden „winzig“ und unbedeutend gemacht und lassen sich das auch noch gefallen. Zwerge auf den Schultern von Riesen, die sich zwergenhaft verhalten.

Die Vorlesung, ein rätselhaftes Phänomen

Etwas rätselhaft ist ja schon, das Phänomen Vorlesung. Fast keiner mag Vorlesungen: Vielen Studierenden sind sie oft zu langweilig und auch nicht effizient genug in Sachen Lernfortschritt, viele Dozierende betrachten sie als lästiges Übel. Aus neurobiologischer Sicht weist sie gravierende Nachteile auf. Und doch stirbt die Vorlesung nicht aus, weil… Ja, warum eigentlich?

Klaus Günthers Kritik an Vorlesungen jedenfalls bezieht sich oft auf seine persönlichen Erfahrungen (von ihm als episodische Empirie“ bezeichnet, S. 12) und häufig auch auf ältere Literatur. Dadurch wirkt sie für mich etwas beliebig und erweckt teilweise den Anschein, dass hier gegen einen Strohmann argumentiert wird – gegen Vorlesungen, die in dieser Form gar nicht mehr gegeben werde. Vielleicht existiert die Vorlesung als Lehrformat ja noch, weil Lehrende mittlerweile wissen, wie sie dabei „Nahkommunikation“ stattfinden lassen können? (Okay, okay, ich höre auf zu träumen. Das wäre ja zu schön. Ich kenne immer noch viel zu viele Lehrende, die „Fernkommunikation“ betreiben. Zudem mindestens genauso viele, die von sich denken, dass sie „Nahkommunikation“ betreiben, und deren Worte trotzdem nicht bei den Studierenden ankommen. Aber das ist ein anderes Thema.)

Die Alternativen zur Vorlesung

Der Autor betrachtet auch andere Methode oder Darbietungsformen für den Stoff: Flipped Classroom, MOOCs, das Lesen von Printtexten und das Lesen von Online-Texten. Er erörtert jeweils, was dabei neurobiologisch passiert. Sein eigener Vorschlag für das dialogische Lernen kommt dann leider sehr kurz (S. 104) bzw. scheint noch nicht komplett ausgearbeitet zu sein. So wie ich es verstehe, sollen Interviews eine zentrale Rolle beim Lernen einnehmen. Ein Studierender befragt eine Lehrperson, während die restlichen Lernenden zuhören.

Access denied?

So hilfreich die Ausführungen insgesamt auch waren: Ich konnte keinen rechten Zugang finden. Vielleicht ist „Access denied“ zu hart. Aber „Access made difficult“ trifft leider zu. Das hat zum einen mit der Sprache zu tun, die ich stellenweise anstrengend und kompliziert fand, zum anderen mit den vielen historischen Beispielen, die mich nicht ansprechen. Zudem ist das Layout des Buches einfallslos. Hier wurde die Chance versäumt, durch (hirngerechte) Abbildungen, Advanced Organizer o.ä. das Lesen angenehmer und lernförderlicher zu gestalten.

Das Ende des Buches lässt mich auch etwas ratlos zurück: Der eigentliche Text endet mit einer (der einzigen) Tabelle. Darauf folgen drei 3 Exkurse (warum?), und der letzte Exkurs endet abrupt.

Dennoch wünsche ich dem Buch eine große Leserschaft. Denn:

– Das Thema des Buches ist wichtig und noch viel zu wenig bekannt. Auch die Hochschuldidaktik hat sich bisher kaum auf die Neurobiologie eingelassen (S. 17).

– Die Lehrpersonen müssen für eine veränderte Lehre andere persönliche Voraussetzungen mitbringen (S. 120). Darüber wird bisher kaum gesprochen.

Welchen Studierenden kann man das Buch empfehlen?

Für Studierende ist das Buch wahrscheinlich nur mäßig spannend.

Was bringt das Buch für den Einsatz in der Lehre?

Leider habe ich bis zum Ende nicht verstanden, welches Ziel der Autor mit dem Buch genau verfolgt und wer genau die Zielgruppe ist.

Wahrscheinlich findet es seine Leserschaft in denjenigen, die sich in ihrer Lehre sowieso schon in die „Nahkommunikation“ begeben haben und den Studierenden auf Augenhöhe begegnen. Sie bekommen mit dem Buch für ihren Ansatz einige Argumente aus der Neurobiologie geliefert, was sicher hilfreich ist.

Ich unterstelle, dass Lehrende im Modus „Fernkommunikation“ sowieso wenig Interesse für das gehirngerechte Lernen mitbringen. Denn, so ihre Argumentation: Es hat doch bisher auch immer funktioniert, und wenn Studierende wirklich wollen, setzen sich eben hin und lernen den Stoff (bla bla bla, man kennt das ja). Sie werden also eher nicht zu dem Buch greifen.

Auf jeden Fall hat der Autor ein Plädoyer für die Abkehr von der „obrigkeitlichen Lehre“ und für das Schaffen einer dialogischen Lehr-/Lernkonstellation vorgelegt. Da jedoch die Gedanken zur tatsächlichen Umsetzung des dialogischen Lernens nur einen kleinen Anteil an der Gesamtseitenzahl ausmachen, halte ich den unmittelbaren Nutzen für die Lehre für eher gering.

Herzlichen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar!

 

Zum Weiterlesen

https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/dialogisches-lernen-fussball-hochschule

http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/wissen-und-bildung/hochschulen/Bonner-Politologe-pl%C3%A4diert-f%C3%BCr-Lernen-durch-Dialog-article4023224.html

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