(Teil 2)
Ein Gastbeitrag von Katharina Pietsch, Tyll Zybura und Jessica Koch (Unconditional Teaching)
Unconditional Teaching (bedingungslose Lehre) basiert auf der Grundüberzeugung, dass Lernen dann gelingt, wenn Lernende ihr Lernen für sich selbst bedeutungsvoll machen können und es in gleichwürdige, wertschätzende Lehr-Lern-Beziehungen eingebettet sehen. Was das für das Lehren von wissenschaftlichem Arbeiten bedeutet, haben wir hier in zehn Prinzipien zusammengefasst. Die ersten 5 Punkte stellen wir in Teil 1 dieses Gastbeitrags vor:
1) Gute Lehr-Lern-Beziehungen sind die wichtigste Basis.
2) Lernen gehört den Lernenden.
3) Wissenschaftliche Forschung basiert auf Neugier und Kreativität, und Bewertung und Benotung sind für beide schädlich.
4) Wenn wir wollen, dass Studierende sich wie Wissenschaftler*innen verhalten, müssen wir sie auch wie Wissenschaftler*innen behandeln.
5) Bedeutungsvolle Kontexte gestalten.
6) Lernen als Aneignung von Strategien statt von Kompetenzen denken.
Lehre als Vermittlung von Kompetenzen zu denken, lädt zu einer defizitorientierten Sicht auf Lernende ein: Sie verfügen offensichtlich nicht über die Kompetenzen, von denen wir annehmen, dass wir sie unterrichten; sie sind standardmäßig inkompetent. Außerdem ist diese Vorstellung von Lehre mechanistisch und damit unrealistisch: Wenn man eine bestimmte Kompetenz erworben hat, dann kann man etwas Bestimmtes leisten, egal in welchem Kontext oder unter welchen Umständen. Dass wir nur dann etwas so Komplexes wie wissenschaftliches Arbeiten wirklich lernen, wenn wir es in unterschiedlichen Kontexten immer wieder tun, wird dabei nicht berücksichtigt. Diese Vorstellung von Lernen als Kompetenzerwerb trägt auch zu unserer Frustration als Lehrende bei, weil sie uns glauben macht, dass Studierende dieses oder jenes „können sollten“, nachdem sie es einmal „gelernt haben“.
Wenn wir dieser mechanistischen, defizitären Sicht auf Lernen ein Sprechen über Strategien entgegensetzen, wird es viel einfacher, die Fähigkeiten und Ressourcen in den Blick zu nehmen, die Lernende bereits haben. Denn für alles, was wir tun, haben wir bereits Strategien – nur manchmal führen diese nicht zu dem Ergebnis, das wir uns wünschen, oder sie sind weniger effektiv, als wir gut fänden. Dann macht es Sinn, andere oder neue Strategien auszuprobieren – dafür ist es gut, wenn Lernende im Unterricht eine Vielfalt an Strategien angeboten bekommen. Für uns ist das eine funktionalere und nützlichere Vorstellung von Lernen, bei dem im Vordergrund steht herauszufinden, mit welchen Strategien individuelle Lernende die Funktionen von wissenschaftlichem Arbeiten für sich selbst am besten umsetzen können.
Mehr dazu lesen:
Tyll Zybura: „For Strategies-based Teaching“ (https://www.unconditional-teaching.com/index.php?pg=for-strategies-based-teaching)
7) Die eigene Wissenschaftspraxis transparent machen.
Ein Grund dafür, dass wissenschaftliches Arbeiten zu lernen für Studierende schwer ist, hat damit zu tun, dass ihnen Wissenschaft nur als Ergebnis begegnet – in Form fertiger Artikel oder Bücher etwa –, der Entstehungsprozess dieser Produkte aber wie eine Black Box ist.
Wann immer möglich sollten wir als Lehrende Studierenden deshalb Einblicke in unserer eigenes wissenschaftliches Arbeiten geben: wie wir selber recherchieren, Texte lesen, Texte schreiben, überarbeiten und publizieren, wie wir uns mit einem Abstract für einen Beitrag auf einer Konferenz bewerben und wie wir uns auf einen Konferenzvortrag vorbereiten. Wir können Studierenden verschiedene Versionen unserer Texte oder Vorträge zeigen, damit sie sehen können, wie viel Entwurfs- und Überarbeitungsarbeit vor dem fertigen Ergebnis passiert.
Darüber hinaus ist es gut, wenn wir uns auch als Personen zeigen: Wir stehen für unsere Studierenden sozusagen Modell als professionelle Akademiker*innen mit Ecken und Kanten, mit Leidenschaft und mit Selbstzweifeln, mit Knicken im Lebenslauf und mit Stolz auf unsere Leistungen. Wir können darüber sprechen, wie wir mit Nervosität vor Vorträgen, mit kritischem Feedback oder dem Imposter-Syndrom umgehen. (Und natürlich sollten wir all das nicht in direktiver didaktischer Absicht tun, um Studierenden vorzugeben, wie sie selbst leben, denken und arbeiten sollen.)
8) Funktionen lehren statt Regeln.
In vielen Bereichen legen wir den Fokus darauf, die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens zu lehren, und vernachlässigen dabei die Funktionen, die diese Regeln erfüllen helfen sollen. Und das ist angesichts der Bewertungsorientierung unserer Lehre auch naheliegend, weil das Einhalten von Regeln oft leichter zu kontrollieren ist. Anwesenheitspflicht durchzusetzen ist einfacher, als die eigene Lehre so zu gestalten, dass Studierende die diskursiven Prozesse in der Präsenzzeit als wertvoll und bereichernd erfahren. Die Anzahl der referenzierten wissenschaftlichen Literatur in einer studentischen Arbeit vorzugeben ist einfacher, als Studierenden dabei zu helfen zu einer Einschätzung darüber zu kommen, welche Literatur für ihre Arbeit sinnvoll und angemessen ist. Und die Verwendung der ersten Person zu verbieten ist einfacher, als über die Funktionen von Wissenschaftssprache zu sprechen und Studierende zu ermutigen, ihre eigene Stimme zu finden.
Regeln sind also immer Abkürzungen, und sie lassen dabei das Wichtigste links liegen: nämlich ein Verständnis von wissenschaftlichem Arbeiten zu vermitteln, das es Lernenden erlaubt, sich eigenständig dazu ins Verhältnis zu setzen. Regeln zu lehren stärkt die Autoritätsposition von Lehrenden und macht Studierende deshalb abhängig von der Bewertung anderer. Diese Abhängigkeit behindert sie darin, selbstständig zu arbeiten und ihre eigene Arbeit einschätzen zu lernen. Je mehr Studierende sich unter dem Druck sehen, die formalen Regeln ihrer individuellen Betreuer*innen herausfinden und einhalten zu müssen, umso mehr geht ihnen der Blick für die kommunikative Funktion ihres Textes verloren. Das buchstabengetreue Befolgen von formalen Regeln wird zu einem Absicherungsverhalten, das zu Texten führt, die vielleicht formal korrekt sind, die aber ihr wissenschaftliches Anliegen nicht gut kommunizieren. Funktionen zu lehren statt Regeln erlaubt Studierenden, ihre eigenen Lösungen zu finden, und hilft ihnen deshalb auch dabei, ihre Arbeit für sich sinnhaft zu machen.
9) Wissenschaft bedeutet, Positionen zu verteidigen, nicht Fakten zu finden.
Medien und Schule vermitteln uns den Eindruck, dass es bei Wissenschaft um das Finden von Fakten geht („Die Wissenschaft hat festgestellt …“). Dieses Verständnis von Wissenschaft führt Studierende jedoch häufig in die Irre; vor dem Etablieren von Fakten geht es in der Wissenschaft um das Verteidigen von Positionen: darum, wessen Theorie, Hypothese, Argument, Erklärung, Interpretation oder Studienergebnis in der Diskursgemeinschaft der jeweiligen Disziplin als valide und überzeugend anerkannt wird. Und das müssen wir immer wieder thematisieren, sowohl bei der Arbeit mit Texten als auch wenn wir wissenschaftliches Schreiben lehren.
Wenn Studierende in den Texten von anderen nur nach Fakten suchen und sich in ihren eigenen Texten nur darauf konzentrieren, Fakten zu präsentieren, übersehen sie leicht, wo Wissenschaftler*innen Positionen austauschen und in welcher Weise – affirmativ oder in Abgrenzung – sie sich auf andere beziehen. Es wird ihnen außerdem schwerer fallen zu verstehen, warum es beim wissenschaftlichen Arbeiten so wichtig ist, jeden Bezug auf andere Wissenschaftler*innen transparent zu machen: Warum sollte das nötig sein, wenn es nur um Fakten ginge? Fakten sind schließlich Fakten, egal, wer darüber schreibt.
10) Plagiate als handwerkliches und nicht als moralisches Problem behandeln.
Plagiate in studentischen Arbeiten sind in der Regel das Ergebnis von Panikreaktionen auf überwältigenden Druck oder von mangelnder Vertrautheit mit den Prämissen der akademischen Wissensproduktion. In beiden Fällen hat Plagiieren seinen Ursprung darin, dass Studierende von der Institution zu wenig Strategien an die Hand bekommen, die ihnen beim wissenschaftlichen Schreiben Klarheit und Sicherheit geben. (Während unser benotungsbasiertes Bewertungssystem gleichzeitig Anreize setzt, die Plagiieren als sinnvolle Lösung erscheinen lassen.) Ein Aspekt dieses institutionellen Versagens besteht darin, dass wir Plagiieren als moralisches und nicht als technisches Problem normalisiert haben.
Statt dieser defizitorientierten Herangehensweise, die sich auf Fehler und Bestrafung konzentriert, sollten wir: Erstens vermeiden, Studierende einzuschüchtern und zu beschämen, und Plagiieren stattdessen ausschließlich als ein spezifisches handwerkliches Problem behandeln. Zweitens den Fokus mehr darauf legen zu verdeutlichen, warum Wissenschaftler*innen so sehr darin investiert sind, die intellektuellen Einflüsse anderer auf die eigene Arbeit offenzulegen.
Anstatt Studierenden zu sagen: „Tut dies nicht, achtet darauf, jenes zu vermeiden“ und damit das wissenschaftliche Schreiben als ein prekäres Unterfangen darzustellen, das leicht zu katastrophalen Fehltritten führen kann, können wir das Erlernen wissenschaftlicher Arbeitsweisen als den Erwerb einer Expertise behandeln, die Studierenden Zugang zu Wissenschaft als Gemeinschaftsprojekt ermöglicht.
Nur wenn Studierende sich selbst als Wissenschaftler*innen verstehen und sich mit ihren eigenen Beiträgen in diese Wissenschaftsgemeinschaft eingeladen fühlen, nur wenn wir ihnen die Freiheit zugestehen, ihre eigenen Ideen und Herangehensweisen zu entwickeln, werden sie verstehen, warum individuelle Autorschaft und die Anerkennung dieser Autorschaft durch andere in der Wissenschaft so eine große Rolle spielen. Und dann werden Plagiate ganz automatisch weniger vorkommen.
Mehr dazu lesen:
Tyll Zybura: „Teaching About Plagiarism (or Not)“ (https://www.unconditional-teaching.com/index.php?pg=teaching-about-plagiarism-or-not)
Über uns:
Wir – Katharina Pietsch, Tyll Zybura und Jessica Koch – sind oder waren Lehrende und Forschende an der Universität Bielefeld in der anglistischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Gemeinsam haben wir 2019 das Projekt Unconditional Teaching gegründet mit dem Ziel, Konzepte für beziehungsreiche und machtsensible Lehre zu entwickeln. Auf unserer Webseite veröffentlichen wir Texte und den Unconditional Teaching Podcast zu Haltungen und Praktiken, die dabei helfen können, Lehre bedürfnisorientierter, wertschätzender und menschlicher zu machen. Und wir schulen Hochschullehrende in empathischer Kommunikation, in Sensibilität für mentale Gesundheit und in innovativen Ansätzen kollaborativer Lehre.
Tyll und Katharina haben außerdem zusammen mit Vivian Gramley den Ratgeber Writing in English Studies: A Guide for Students in English Linguistics and Literature (Barbara Budrich 2020) veröffentlicht, der unseren nicht-normativen Ansatz für das Lehren von wissenschaftlichem Schreiben widerspiegelt und den Fokus darauf legt, die Funktionen disziplinspezifischer Konventionen transparent zu machen und Studierende zu ermutigen, Expert*innen ihres eigenen Schreibens zu werden.
Webseite: www.unconditional-teaching.com
E-Mail: team@unconditional-teaching.com
Instagram: @unconditionalteaching
Tyll auf Linkedin: https://www.linkedin.com/in/tyll-zybura/
Katharina auf Linkedin: https://www.linkedin.com/in/katharina-pietsch-4bb626237/