Über das Schreiben wissenschaftlicher Texte als soziale Praxis

Ein Gastbeitrag von Dr. Inken Tegtmeyer

 

Wenn wir Studierenden die Kunst vermitteln, wissenschaftliche Texte zu schreiben, stehen wir vor vielen sehr unterschiedlichen Problemen. In diesem Beitrag werde ich ausgewählte Aspekte der komplexen sozialen Beziehungen  thematisieren, die in der Wissenschaft und insbesondere bei der wissenschaftlichen Textproduktion eine Rolle spielen.

Soziale Signale bei der formalen Gestaltung von Zitaten

Fangen wir mit den scheinbar „ganz einfachen“ Fragen an, die zu Beginn eines Studiums um Formalia kreisen:

Wie muss ich zitieren, wie sind Literaturnachweise zu gestalten?

Man kann diese Frage mit einem Handout beantworten, auf dem die jeweilige Institutsrichtlinie verkündet wird; man kann auf verschiedene Ratgeber und unterschiedliche Möglichkeiten verweisen; und man kann auch versuchen, den Studierenden mit Hilfe dieser Fragen einen Einblick in die soziale Dimension wissenschaftlichen Arbeitens zu geben.

Zitierkonventionen sind von Verlag zu Verlag und von Zeitschrift zu Zeitschrift, in Bezug auf Fachdisziplinen und von Land zu Land unterschiedlich. Manche Konventionen haben eine größere Verbreitung gefunden als andere, in manchen Disziplinen gibt es „die eine“ Richtlinie, an die sich alle weltweit halten müssen, wenn sie ernstgenommen werden wollen, in anderen Fächern gibt es diesbezüglich große Vielfalt und Variationsmöglichkeiten.

Je größer diese Freiräume sind, desto relevanter ist die Entscheidung für die eine oder die andere Konvention, weil sie soziale Signale vermittelt, zu welcher Gruppe man sich zugehörig fühlt, weil man genau deren Konvention zur „eigenen“ gemacht hat.

Jede Konvention ist vom „Wissenschaftlichkeitsgrad“ vollkommen gleichberechtigt, die Wahl ist daher kaum sachlich begründbar. Sie lässt sich aber sehr wohl sozial, über habituelle Vorlieben und den Wunsch nach Anerkennung in den relevanten Bezugsgruppen rechtfertigen.

Auswahl der Zitate als Machtspiel

Noch gravierender als bei formalen Fragen sind die sozialen Implikationen bei der inhaltlichen Wahl der Zitate:

Wen oder was kann/sollte/darf ich (nicht) zitieren?

Die wissenschaftssoziologischen Untersuchungen zu Zitationsindizes und Zitierkartellen haben die Relevanz dieser Fragen herausgearbeitet. Aber was erzählen wir unseren Studierenden darüber (wenn wir nicht gerade Wissenschaftssoziologie als Seminarthema haben)? Wie gehen wir zum Beispiel damit um, dass die Seminarlektüre, die wir ausgewählt haben, von uns ausgewählt wurde? Machen wir den Teilnehmenden unserer Veranstaltungen deutlich, nach welchen Kriterien wir sie ausgewählt haben und welche sozialen und inhaltlichen Implikationen damit verbunden sind, wen wir warum ausgeschlossen haben? Vergleichen wir beispielsweise unsere mit den Literaturlisten ähnlicher Veranstaltungen anderer Universitäten und diskutieren die Unterschiede mit unseren Teilnehmer_innen? – Üblicherweise ist für solche Fragen in der engen Semestertaktung kaum Zeit. Soziale Konventionen betreffen nicht nur die Syntax von Literaturangaben, sondern auch Vorstellungen davon, was ein Klassiker ist, was zum Kanon gehört, welche Texte man zu welchem Thema gelesen haben muss, welche Methoden gerade „in“ sind und damit akzeptabel und erwartbar. Diese Konventionen sind historisch kontingent, variieren zwischen wissenschaftlichen Gruppen und Strömungen. Gerade Einführungsveranstaltungen sind daher nicht nur eine Einführung in ein wissenschaftliches Themengebiet, sondern immer auch implizit in die sozialen Strukturen, die die Fragen beantworten: Was gilt als relevantes Thema, wer gilt als relevanter Autor, welche Texte sind relevant, welche Methoden anerkannt? Diese Strukturen sind machterhaltend angelegt und befestigen, wie schon vielfach untersucht wurde, die vornehmliche Sichtbarkeit von den immer selben Texten und Autoren zu Ungunsten anderer „diskriminierter“ Gruppen (z.B. Frauen, Nicht-Europäer, Nicht-Amerikaner u.a.m.).

Dass Zitation nicht nur Teil wissenschaftlicher Redlichkeit, sondern auch ein Machtspiel ist, wird in Veranstaltungen mit Studierenden selten thematisiert. Der Fokus liegt in Einführungen eher auf der (ebenfalls wichtigen) technischen Umsetzung korrekten Zitierens, kaum auf den sozialen Folgen der Zitationspraxis. Wenn ich „die richtigen“ Texte und Autoren zitiere, gilt mein Text als „guter Text“. Zugleich gewinnen die zitierten Texte und Autoren, die vermutlich ohnehin schon viel Reputation genießen, weiter an Aufmerksamkeit und verbessern ihre Zitierindizes, während ich von der Reputation der Zitierten profitiere.

Geben und Nehmen in der Wissenschaft

Dass das Schreiben wissenschaftlicher Texte immer auch eine soziale Praxis ist, die soziale Kontexte und Auswirkungen hat, ist nicht zu verhindern – und es besteht auch gar keine Veranlassung dazu. Hilfreich für die Orientierung im sozialen Raum der Wissenschaft wäre es jedoch, diese Zusammenhänge für Studierende transparenter zu machen und auch in der eigenen wissenschaftlichen Praxis beständig zu reflektieren, warum man sich für die eine oder andere Konvention, das eine oder andere Zitat entschieden hat, welchen Traditionen man damit jeweils folgt und welche anderen Traditionen man ablehnt oder ignoriert.

Das Schreiben wissenschaftlicher Texte kann verstanden werden als ein sozialer Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung, der sich in der Wahl unserer Referenztexte, Zitate und Konventionen zeigt. Unsere wissenschaftlichen Interaktionen können aber auch ganz anders, als ein wechselseitiges Geben und Nehmen, Schenken und Beschenktwerden gedeutet werden, als eine Form der Gabenzirkulation, bei der es uns nicht darum geht, den eigenen Nutzen und Gewinn zu maximieren, sondern unseren Leser_innen etwas zu ermöglichen, was ihnen ohne unseren Text verwehrt bliebe – eine neue Weltsicht, eine neue Erkenntnis. Es lohnt sich, die auch für das eigene Selbstverständnis als Wissenschaftler_in zentrale Frage zu stellen:

Wie wollen wir die soziale Dimension unserer wissenschaftlichen Praxis interpretieren?

In Einführungsveranstaltungen werden Studierende in ihr jeweiliges Fach „sozialisiert“. Das betrifft nicht nur die Inhalte des Seminars, die im Veranstaltungsplan stehen, sondern auch und insbesondere die Einführung in den jeweiligen Habitus des Faches, die Art, wie wir miteinander diskutieren, wie wir über Texte und Gedanken, Methoden und Modelle anderer sprechen und schreiben, Projekte organisieren, Aufgaben aufteilen. Studierende lernen vom ersten Semester an, was im Kontext des universitären Alltags als Normalität gilt und wie man sich anderen gegenüber zu verhalten hat. Wir prägen dadurch das Wissenschaftsverständnis, aber auch das akademische Lebensgefühl und die sozialen Strukturen einer neuen Generation von Wissenschaftler_innen. Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken, mit welchem Vorbild wir hier selbst vorangehen wollen, welche Verhaltensmuster wir für gut und richtig halten und welche Entwicklungen uns problematisch erscheinen. – Sprechen wir z.B. über Zeitmanagement, Effizienz und Leistungsorientierung, affirmieren wir den aktuellen Trend zur Ökonomisierung und Managementisierung der Wissenschaften? Betonen wir die „alten Ideale“ der „Einsamkeit und Freiheit“? Oder versuchen wir, neue oder andere Modelle des sozialen Miteinanders zu denken? Wissenschaftliche Praxis hat soziale Dimensionen, die wir nicht nur reflektieren, sondern auch gestalten können und sollten.

 

Kurzprofil

Dr. Inken Tegtmeyer leitet zur Zeit (2016/17) das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt „Wissenschaft als Gabentausch? Gabentheoretische Interpretationen wissenschaftlicher Praxis“ an der Universität Hildesheim.

Nach einem Studium der Philosophie, Pädagogik und Mathematik/Informationstechnologie war sie über sechs Jahre Dozentin für wissenschaftliche Propädeutik am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Die Kurse zur Einführung in das Lesen und Schreiben wissenschaftlicher Texte bildeten die Grundlage für ihre Dissertation „Wozu in der Philosophie wissenschaftliche Texte geschrieben werden. Eine hermeneutische Erkundung“. (Hier geht es zur Rezension.)

Sie ist Mitbegründerin der wissenschaftlichen Dienstleistungsagentur Akademische Kulturtechniken, das u.a. Lektorate, Expertisen und Evaluationen insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung anbietet.