Ist es möglich, die Grundlagen des empirischen Forschens in zwölf Unterrichtseinheiten zu lehren?
Ja, das geht. Auf einem sehr grundlegenden Niveau geht das. Manche nennen das Niveau niedrig. Trotzdem stehe ich voll und ganz hinter dieser Art von Veranstaltung. Aktuell lehre ich das so im dritten Semester eines Bachelor-Studiengangs.
Wie läuft das ab?
Ab ins kalte Wasser
Zu Beginn des Semesters führe ich die Studierenden in die Grundlagen des empirischen Forschens ein. Das geschieht in Form eines Vortrags von etwa 30 Minuten Länge. Danach geht es dann auch schon los mit der Umsetzung. Ich werfe die Studierenden also ins kalte Wasser. (An den verwendeten Bildern können Sie erkennen, zu welcher Jahreszeit dieser Beitrag geschrieben wurde ;-)) Oder, um es treffender zu sagen, wir stürzen uns gemeinsam in die eiskalten Fluten. Denn wir haben alle keine Ahnung, welche Untiefen und Stromschnellen uns unterwegs erwarten.
Die Studierenden finden sich zu viert oder fünft zusammen und suchen gemeinsam ein interessantes Thema, das innerhalb ihres Studienfaches verortet ist. Da diese Studierenden in ihrem BWL-Studium zwischen fast einem Dutzend Vertiefungsrichtungen wählen können, sind ziemlich alle Branchen und Funktionen durch die Themen abgedeckt. Da heißt es dann gedanklich flexibel bleiben… Ich ermuntere die Studierenden, ein Thema zu nehmen, beim dem sie bereits über Vorkenntnisse verfügen. Das ist zu Beginn des dritten Semesters gar nicht so einfach, immerhin studieren sie ja erst seit einem Jahr. Am Ende steht aber meist zumindest einmal die grobe Richtung fest. Oder anders gesagt, die Gruppen klammern sich an den vermeintlich rettenden Strohhalm.
Bei den nächsten Terminen widmen wir uns den konkreten Forschungsfragen, den Hypothesen und der Methodenwahl. Nicht selten werden dann die Themenvorschläge aus der ersten Sitzung doch für unbrauchbar befunden, und die Suche nach einem neuen Thema beginnt. Solange das gut bearbeitbar ist, soll es für mich in Ordnung sein. Manchmal trauere ich den ersten Varianten etwas hinterher; manchmal bin ich froh darüber, dass doch noch etwas Besseres nachkam.
Der Plan für die Datenerhebung ist als nächstes an der Reihe, danach kommen die tatsächliche Durchführung der Befragung (oder Beobachtung usw.), die Datenerfassung und -auswertung, und ganz am Ende stehen natürlich die Abschlusspräsentationen. Diese werden gefolgt von einer Reflexion über das Gelernte und über die Schlüsse, die die Studierenden daraus ziehen.
Die einzelnen Schwimmstunden a.k.a. Vorlesungstermine
Bis auf den letzten Termin mit den Präsentationen laufen die einzelnen Veranstaltungen relativ ähnlich ab. Zu Beginn gibt es ein Status-Update: An welchem Punkt befinden sich die einzelnen Gruppen gerade? Hat sich seit dem letzten Termin etwas Neues ergeben? Was sind konkret die nächsten Schritte am heutigen Tag?
Wenn nötig, gebe ich kurz theoretischen Input zu den anstehenden Arbeiten oder beantworte aufgelaufene Fragen. Vieles lässt sich jedoch auch im Foliensatz nachschlagen, den die Studierenden zu diesem Zeitpunkt schon erhalten haben.
Es schließt sich die Erarbeitungsphase in den Kleingruppen an. Die meisten Fragen ergeben sich genau dann, während der Diskussionen in den Gruppen. Manche kommen nicht weiter, weil ihnen ein kleiner Impuls fehlt oder weil sie sich innerhalb der Gruppe nicht auf ein Vorgehen einigen können und gern eine Meinung von außen hätten. (Zu diesem Zeitpunkt wäre es fantastisch, wenn nicht nur einer, sondern mehrere Lehrende anwesend wären, denn meistens wollen viele Gruppen gleichzeitig etwas, und Stillstand ist bei der knapp bemessenen Zeit natürlich extrem unerwünscht.)
Gegen Ende jedes Termins, nach Abschluss der Erarbeitungsphase, ziehen wir kurz im Plenum Resümee. Das dauert nicht länger als ein bis zwei Minuten pro Gruppe.
Warum lehre ich das alles so und nicht anders?
Schon oft musste ich diesen Ansatz gegen Kritiker verteidigen. Deren Argumente liegen auf der Hand: „Was in diesen 12 Unterrichtseinheiten gemacht wird, bleibt aufgrund der Kürze der Zeit an der Oberfläche. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit empirischen Forschungsmethoden ist in diesem Format nicht möglich.“
Mein Standpunkt ist ein anderer: Würde ich die gleichen Inhalte in Form einer klassischen Vorlesung gestalten, könnte ich zwar deutlich mehr in die Tiefe gehen. Allerdings glaube ich nicht, dass das gleichbedeutend ist mit einer tiefen Auseinandersetzung.
(Es gibt übrigens auch andere Lehrende, die ähnlich lehren.)
Durch eine detailreichere Beschäftigung mit der Materie kennen die Studierenden zwar mehr Details – wenn sie sie denn behalten. Aber: Wenn wir über empirisches Forschen nur sprechen, also quasi trockenschwimmen, fehlt die eigene Erfahrung. Zumal dann ja meistens nur einer spricht, nämlich der Lehrende. Erstens, weil er über das Know-How verfügt, und zweitens, weil nur er die entsprechenden Erfahrungen mitbringt.
Erfahrung überträgt sich nicht durch das Darüber-Sprechen (Ich sage nur: Kind und Herdplatte). Nur indem die Studierenden selbst nachdenken und selbst etwas tun dürfen, haben sie die Möglichkeit, Fehler zu machen, die Fehler als solche zu erkennen und diese im nächsten Anlauf zu korrigieren.
Einige Studierende starten auch mit der naiven Vorannahme, dass man so eine Erhebung doch mal schnell nebenbei durchführen könne. Sie sehen dann, dass genau das nicht der Fall ist. Sie lernen – teilweise auf die harte Art –, dass sie untergehen, wenn sie die Zeit zu knapp kalkulieren.
Die Studierenden können nach Abschluss der Lehrveranstaltung auf viele Erfahrungen zurückgreifen. Sie erinnern sich daran,
- dass gut formulierte Forschungsfragen und Hypothesen alle weiteren Arbeiten erleichtern
- welche Formulierungen im Fragebogen schlechte, uneindeutige Antworten bringen
- wie lange sie gebraucht haben, um vergleichsweise wenige Daten aufzubereiten und auszuwerten
- dass bei einer verzerrten Auswahl der befragten Personen die Aussagekraft der Ergebnisse leidet
- was nach der Abschlusspräsentation an ihrem Vorgehen kritisiert und in Frage gestellt wurde.
Ein weiteres Plus
Durch die Aufteilung in Gruppen entsteht eine Bandbreite an Beispielen, nicht nur inhaltlicher, sondern auch methodischer Art. Wenn Gruppe 1 Fehler A nicht begeht, dann ganz sicher Gruppe 2 oder 3… Es kommen immer jede Menge Aspekte zusammen, anhand derer wir gut über die Aussagekraft empirischer Ergebnisse diskutieren können. Für jede Vorgehensweise zur Beantwortung der Forschungsfragen finden sich Pros und Contras. Und schon habe ich die Studierenden da, wo ich sie haben möchte: Sie sollen nachdenken, was mit empirischer Forschung möglich ist und was nicht.
Zusätzlich zu ihren eigenen Erfahrungen profitieren die Studierenden von den Erfahrungen der anderen Gruppen. Sie sehen, was diese anders gemacht haben und ob das zum Ziel geführt hat oder nicht.
Halten wir also fest:
Natürlich bleiben wir mit dieser Methode an der Oberfläche. Dafür schaffen wir Anknüpfungspunkte. Studierende, die später in ihrer Abschlussarbeit etwas Empirisches machen wollen, müssen sich sowieso intensiver mit der Methodenfrage befassen. Sie können das mit einem Vorwissen tun, das sich auf vielfältige Erfahrungen stützt.
Als Lehrende wissen wir zwar zu Beginn nicht, wohin die Reise in den eiskalten Fluten uns führt. Aber wir kennen immerhin die potentiellen Gefahren und die verschiedenen Auswege aus diesen Situationen. Wir stehen in einem solchen Lehrformat mit dem Rettungsring an der Seite und werfen ihn den Studierenden bei Bedarf zu, so dass uns niemand komplett untergeht. Ende der Metapher, Ende des Beitrags.
Was bevorzugen Sie – Trockenschwimmen oder das Bad in den eiskalten Fluten? Gern verlinke ich auch weitere Beispiele.
Liebe Frau Klein,
eine Antwort aus der Perspektive einer Schreibberaterin, die an einer Hochschule mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen aktiv ist: Würden mehr Curricula das Bad in den eiskalten Fluten wagen, gingen nicht so viele Thesis-Kandidat*innen baden – einfache Rechnung. Ihr konzeptioneller Mix aus Trial-and-Error (eigenes Projekt) und Modell- bzw. Beobachtungslernen (Austausch in der Gruppe) überzeugt mich. Er vermag, typischen frustrierenden und zeit-, motivation- wie nervenkostenden Erfahrungen im Rahmen der Abschlussarbeit vorzubeugen: wie Fragebögen, die keine klaren Erkenntnisse erbringen, zu früh/zu spät gestarteten Erhebungen, „überraschend“ aufwendigem Einarbeiten in Datenauswertungssoftware u. v. m.
Gewiss gibt es Studierende, denen es gelingt, sich sowohl im Studium als auch im Kontext der Abschlussarbeit konsequent im Nichtschwimmerbecken aufzuhalten, oder die mit mehr Glück als Verstand mit Schwimmflügeln in die eiskalten Fluten springen. Das liegt aber auch nicht selten darin begründet, dass in der Gestaltung von Curricula das Erfordernis frühen Schwimmtrainings nicht gesehen wird – weder in Form von Schwimmstunden noch Trockenübungen an Land.
Liebe Frau Spanier, danke, dass Sie das Bild noch erweitert haben. Der Gedanke des Nichtschwimmerbeckens gefällt mir sehr, und dass sich einige Studierende mit Schwimmflügeln in die eiskalten Fluten stürzen, ist leider auch wahr. Manche Bademeister lassen das zu, stehen untätig nebendran und beschweren sich dann hinterher…