Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Ich würde ziemlich viel darauf verwetten, dass im Laufe jedes Semesters der folgende Wunsch auftaucht: „Können Sie uns eine Musterarbeit zur Verfügung stellen?“
Die Studierenden im ersten Semester wollen wissen, „wie so etwas aussieht“. Sie würden gern ein Beispiel dafür haben, „wie es richtig geht“. Es fehlt ihnen ein Beispiel, an dem sie sich orientieren können.
Das Ob: Soll ich? Soll ich nicht?
Nun ist es natürlich problematisch, für eine wissenschaftliche Schreibaufgabe eine Musterlösung zu definieren. Denn es existieren ja potentiell unendlich viele, gleichermaßen „richtige“ Lösungen. In dem Moment, in dem wir als Lehrende eine davon zeigen, blenden wir den Rest aus. Diesen Umstand müssen die Studierenden erklärt bekommen und auch wirklich verstehen. Sonst lehnen sie sich beim Verfassen ihrer eigenen Arbeit stark an die vermeintlich allein seligmachende Lösung an. Besonders Typ 2- und Typ 3- Studierende sind dafür anfällig: die einen, weil sie möglichst wenig Aufwand betreiben wollen, und die anderen, weil sie alles richtig machen wollen. Und wir korrigieren dann in der Folge ziemlich viele ziemlich ähnliche Arbeiten. Hurra. Das ist wohl nicht die Sorte von Lerneffekt, die wir uns wünschen.
Ein weiteres Problem kommt bei der Auswahl einer Musterarbeit hinzu: die Subjektivität bei der Bewertung von wissenschaftlichen Arbeiten. Dass es sie gibt, ist unbestritten – eine Arbeit, drei Lehrende, vier Meinungen. Wie sollte es also möglich sein, eine Arbeit auszuwählen, die den Studierenden nicht nur die eigenen Vorstellungen und Vorlieben zeigt, sondern die allgemein eine gute Orientierung gibt? Indem jemand eine Arbeit als „Musterarbeit“ bezeichnet, die seine Kollegen schlechter beurteilen würden, schafft er Probleme. Sollten wir das Vorhaben also aufgeben? Ich denke nicht. Es kommt auf die Art der Vermittlung an.
Das Was
Für die Auswahl der Arbeit sollten Sie vor allem einen Tipp beherzigen. Nehmen Sie eine inhaltlich besonders gute Arbeit! Wie meine ich das? Ist das nicht sowieso klar? Ich finde, man kann es nicht deutlich genug sagen: Wählen Sie auf jeden Fall eine Arbeit aus, deren Inhalt Sie wirklich überzeugt. Eine Arbeit, die eine (originelle) Idee konsequent verfolgt.
Das größte Problem – vor allem bei Anfängerarbeiten – ist sowieso die Präzisierung des Themas und das explizite Nennen einer Fragestellung. Darin sollte die Arbeit also gut sein, um als anschauliches Beispiel dienen zu können. Auch das Fazit sollte mindestens gut, wenn nicht sogar sehr gut sein. Denn auch dabei handelt es sich um eine notorische Schwachstelle. Wenn Sie dafür Ihren Studierenden ein gut gemachtes Beispiel zeigen können, haben Sie schon viel gewonnen.
Wie diese Arbeit formal aussieht, sollte wirklich zweitrangig sein. Die formalen Aspekte werden sowieso andauernd überbetont. Von den Studierenden erwarte ich, dass sie sich etwa einen Seitenrand von 2,5 cm statt 3 cm vorstellen können, wenn dieser gewünscht ist. Solche Fehler in der Musterarbeit sind verzeihbar, weil es ein Leichtes ist, sie bei der Besprechung zu korrigieren. Ist die Arbeit allerdings inhaltlich schwach, wird es schwierig, diesen Mangel bei der Besprechung in der Lehrveranstaltung zu heilen. (Wenn Sie eine Arbeit haben, die sowohl inhaltlich als auch formal hervorragend ist, verwenden Sie natürlich die.)
Gehen Sie also auf die Suche nach einer älteren studentischen Arbeit, die Sie anonymisiert verwenden können. Stöbern Sie in den sehr gut bewerteten Arbeiten, bis Sie eine finden, die Sie gern besprechen wollen. Es soll Ihnen ja auch Spaß machen. Ihre Begeisterung für eine gut durchdachte wissenschaftliche Arbeit darf gern rüberkommen.
Das Wann
Es bietet sich an, die Arbeit relativ spät im Semester durchzugehen, wenn alle Themen des Wissenschaftlichen Arbeitens bereits abgedeckt wurden. Die Studierenden benötigen dieses Basiswissen, um überhaupt eine Chance zu haben, sinnvoll über die verschiedenen Aspekte sprechen zu können. Im Vorfeld bleibt dann auch Zeit, um einzelne Auszüge von fremden Arbeiten gemeinsam durchzusprechen. Zum krönenden Abschluss kann es dann um eine komplette Arbeit mit allen Bestandteilen gehen. Jetzt betrachten wir auch den Aufbau und die Schlüssigkeit des gesamten Texts.
Ermöglichen Sie den Studierenden rechtzeitig den Zugang zu der Arbeit, damit sie alles in Ruhe anschauen und auf sich wirken lassen können. Studierende, die unvorbereitet zu dieser Lehrveranstaltung kommen, haben nur halb so viel davon.
Das Wie
Bevor wir beginnen, bitte ich die Studierenden, mit der Denkhaltung „Überarbeiten“ an den Text zu gehen, als wäre es ein eigener zu überarbeitender Text. Der Fokus liegt dabei auf der inhaltlichen Seite. Ihr persönliches Motto dieser speziellen Lehrveranstaltung sollte sein: „HOC vor LOC“ (Higher Order Concerns vor Lower Order Concerns).
Die Besprechung muss relativ eng angeleitet sein, sonst bleibt man bei den LOCs hängen. Die sind erstens für die Studierenden leichter zu entdecken und bieten zweitens vor allem den unvorbereiteten Studierenden eine Möglichkeit, doch etwas beizutragen („Auf S. 5 fehlt unten ein Komma.“). Dass uns das nicht wesentlich weiterbringt, sollte klar sein.
Wie gehe ich also vor? Auf jeden Fall nicht der Reihe nach von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist vielmehr ein wildes Hin- und Herblättern in der Arbeit.
Hangeln Sie sich beispielsweise an den folgenden Leitfragen entlang:
Anfangskapitel
- Wie ist die Einführung in das Thema gelungen?
- Wurde eine Fragestellung formuliert?
- Wie präzise ist die Fragestellung?
Schlusskapitel
- Sind hier die Ergebnisse der Arbeit prägnant zusammengefasst?
- Erhält der Leser einen guten Einblick in die Ergebnisse?
- Wie verhält sich das Schlusskapitel zum Anfangskapitel?
Hauptteil
- Ist ein roter Faden erkennbar?
- Sind irrelevante Inhalte zu finden, fehlen im Gegenzug wichtige Inhalte?
- Wie ist die Quellenarbeit gelungen?
Sie können sich bei der Besprechung auch an Ihrem Korrekturleitfaden orientieren und den Studierenden einen kleinen Einblick in Ihre Korrekturroutine gewähren. Seien Sie sicher, dass in dem Fall die Aufmerksamkeit besonders groß sein wird.
Insgesamt gilt: Weniger ist mehr. Überladen Sie diese Besprechung nicht. Überlegen Sie vorher, was Ihnen wirklich wichtig ist.
Das Danach
Mit der Besprechung ist es nicht getan. Geben Sie Ihren Studierenden noch etwas Schriftliches an die Hand. Es sind sowieso nicht alle anwesend, nicht jeder bekommt in der Lehrveranstaltung alles mit, Missverständnisse entstehen immer und verbreiten sich sonst weiter.
In dem Dokument sollte deutlich vermerkt sein, dass es nur exemplarisch die besonders gelungenen Stellen und die Schwachstellen der Musterarbeit aufzeigt. Im Wesentlichen liste ich die mir wichtigen Punkte auf und schreibe dazu noch ein paar Anmerkungen nieder.
Fazit
Natürlich löst auch diese Vorgehensweise nicht das oben angesprochene Problem der Subjektivität bei der Bewertung. Es mildert es aber durch die Transparenz deutlich ab. Bei der Besprechung wird deutlich, was absolute No-Gos beim Verfassen einer Arbeit sind. Zusätzlich können Sie thematisieren, an welchen Stellen diejenigen, die die Arbeit schreiben, und diejenigen, die sie anschließend bewerten, über Spielraum verfügen.
Für mich überwiegt der Nutzen, den die Studierenden aus einer solchen Besprechung einer Musterarbeit ziehen. Sie erhalten tatsächlich die gewünschte Orientierung und gehen mit einer größeren Sicherheit an ihr erstes eigenes wissenschaftliches Schreibprojekt.