Meine persönliche Hassfrage beim wissenschaftlichen Arbeiten

Da ist sie wieder. Oh ja, sie kommt garantiert. In jedem Semester, in jeder einzelnen Gruppe. Meine Lieblingsfrage, die Frage aller Fragen, bekannt auch als die Frage, auf die es keine Antwort gibt: „Wie viele Bücher muss ich denn zitieren?“ Übersetzt heißt sie so viel wie:

  • „Wie kann ich mit möglichst wenig Aufwand bestehen?“ (Oder wenn ich nicht von Faulheit, sondern von Risikominimierung ausgehe: „Ab wie vielen zitierten Büchern bin ich auf der sicheren Seite?“)
  • „Wie viele Bücher und Kopien soll ich denn, um Himmels Willen, aus der Bibliothek nach Hause schleppen?“
  • „Muss ich die dann etwa auch noch lesen?“
  • „In den meisten Büchern steht doch sowieso das Gleiche drin…“ (Wahlweise: „Und wenn sich die Autoren der einzelnen Bücher widersprechen?“)
  • „Je mehr Quellen ich vorliegen habe, desto anstrengender wird das Zitieren. Ich verliere den Überblick.“

Wir sind uns hoffentlich einig, dass es keine allgemeingültige Antwort auf diese immer wieder gestellte Frage gibt. Es hängt vom Thema und der konkreten Fragestellung ab, und es hängt von der Arbeit der zu schreibenden Arbeit ab. Für eine praxisorientierte oder empirische Arbeit benötigt man voraussichtlich etwas weniger Quellen als für eine reine Literaturarbeit (ach…), bei einer Hausarbeit im ersten Semester werden in der Regel weniger Quellen erwartet als bei einer Bachelorarbeit. So weit, so gut. Diese Antwort reicht den Studierenden aber oft nicht aus. Sie wollen einen Anhaltspunkt, einen Richtwert, eine Orientierungsgröße. Damit sie etwas haben, woran sie sich festhalten können.

„Können Sie nicht trotzdem eine Zahl…?“

Kann ich natürlich. Ich nenne dann die alte Daumenregel unbekannten Ursprungs, dass pro Textseite eine Quelle verwendet werden sollte. (Das ist übrigens nicht das Gleiche wie „eine Quellenangabe pro Textseite“ – eines von vielen Missverständnissen). Richtig glücklich bin ich dann nicht, denn die reine Zahl der Quellen sagt ja noch nichts über deren Qualität, geschweige denn über die Qualität der Arbeit aus. Sind die recherchierten Quellen veraltet oder einseitig, brauche ich davon nicht auch noch viele. Stimmt die grundsätzliche Anlage der Arbeit nicht, hilft auch ein ausschweifendes Literaturverzeichnis herzlich wenig. Und es geht ja noch weiter: Je nach Problemlage, reicht es aus, ein einziges Buch zu übersehen.

Wieso ärgert mich die Frage so?

Das Problem liegt wahrscheinlich tiefer. Mir widerstrebt dieser Ansatz, sich so schnell zufriedengeben zu wollen. Es kommt mir wahrscheinlich entgegen, dass ich mittlerweile sehr schnell Texte lesen und beurteilen kann. Das macht es mir leicht, eine große Menge an Literatur zu sichten. (Wenn Sie mehr über meine ersten Schritte im Wissenschaftlichen Arbeiten wissen wollen, lesen Sie hier weiter.) Würde ich mir damit schwer tun, käme ich vielleicht auf ähnliche Gedanken („Wie viele muss ich denn noch?“). Und dennoch: Wenn ich ein Fach studiere, will ich doch die Inhalte kennenlernen und den Dingen auf den Grund gehen. Dazu muss ich lesen oder andere kreative Wege finden, mir einen Überblick über die benötigte Literatur zu verschaffen.

Wahrscheinlich wundere ich mich zusätzlich darüber, dass mir diese Frage direkt gestellt wird und die Studierenden ihre Unlust damit so offen zugeben.

Mein guter Vorsatz

Eines nehme ich mir fest vor: Beim nächsten Auftauchen meiner Hassfrage bleibe ich ganz ruhig. Ganz ruhig. Und erkläre ganz gelassen und zum x-ten Mal, wieso es auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort gibt.

Insgeheim träume ich weiter von solchen Sprechstunden-Erlebnissen: Da fragt mich eine Studierende mich ernsthaft und etwas bedrückt, ob das ok so sei mit ihrem Literaturverzeichnis. Immerhin sei es fünf Seiten lang. Als ich gerade zu einer Antwort ansetzen will, ergänzte sie, dass sie das eben ungewöhnlich finde. Bei ihrer Freundin und Mitstudierenden würde das immer nur eine oder maximal zwei Seiten umfassen. Seufz.

3 Gründe, wieso der Unterricht mehr bringt als jeder Leitfaden

Manchmal lese ich in den Evaluationen am Semesterende, dass es den Studierenden vollkommen genügt hätte, den Leitfaden zum Wissenschaftlichen Arbeiten oder mein Skript zur Lehrveranstaltung zu lesen. Manchmal spreche ich die offensichtlich desinteressierten Studierenden auch während des Unterrichts an und erhalte eine ähnliche Aussage: Wieso das alles so ausführlich behandelt werden müsse, das erkläre sich doch eh irgendwie von selbst, in der Zeit (= zehn Doppelstunden) hätte man ja quasi die Arbeit schon fertigstellen können. Ah ja.

Interessanterweise stammen diese Einwände meist von denjenigen Studierenden, die dann später, ähm, optimierungsbedürftige Arbeiten abgeben (mehr zu den Studierendentypen hier). Es scheint, die Lehrveranstaltung bietet doch einen gewissen Mehrwert. Dieser wird leider von vielen erst im Nachhinein erkannt, im Extremfall sogar erst nach Abschluss des Studiums!

Im Hinblick auf den Lernerfolg sehe ich drei Hauptgründe, wieso der Unterricht mehr bringt als die Leitfadenlektüre: das Aufdecken von Missverständnissen, die Möglichkeit zum Austausch und das Besprechen von Übungsaufgaben..

Grund 1: Missverständnisse aufdecken

Sie lauern dort, wo keiner sie vermutet: Missverständnisse, falsche Vorannahmen, ewig geglaubte Wahrheiten. Nach manch einer Frage von Studierenden sieht man mir meine Ratlosigkeit wahrscheinlich deutlich an. Ich weiß einfach nicht, wie ich diese bestimmte Frage verstehen soll. Ich frage also nach. Wir drehen uns im Kreis. Die Kommilitonen schütteln den Kopf und wundern sich ebenfalls. Bis irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem ich das Missverständnis erkennen und benennen kann.

Zum Beispiel redeten wir einmal über das Zitieren der verwendeten Literatur und kamen nicht voran, weil der Begriff „Sammelband“ Rätsel aufwarf, und damit auch der Unterschied zwischen „Herausgeber“ und „Autor“ für den Fragenden nicht nachvollziehbar war. In einem anderen Semester sprachen wir eine Weile über das Inhaltsverzeichnis und im Zuge dessen über die Seitenzahlen – römisch oder arabisch. Gegen Ende des Themas stellte sich heraus, dass einige Studierende „Nummerierung“ und „Paginierung“ verwechselt hatten. Ihre Übungs-Inhaltsverzeichnisse sahen seltsam aus.

Hätte ich mir bloß alle diese Missverständnisse sofort notiert! Es würde mir sehr helfen, mein Skript noch verständlicher zu formulieren.

Grund 2: Austausch und gegenseitige Tipps

In meiner Lehrveranstaltung ist immer auch Zeit für kleinere Diskussionsrunden zu problematischen Themen. Die Studierenden können sich austauschen und sich gegenseitig Tipps geben. So etwas kann kein Leitfaden der Welt leisten. Oft geht es da um Motivation und Zeitmanagement, aber auch zur Literaturrecherche oder zu nervenraubenden technischen Problemen gab es schon viele verblüffend unkomplizierte Lösungen.

Und es soll mir jetzt keiner weismachen, dass die Studierenden eben in ihrer Freizeit über Wissenschaftliches Arbeiten reden würden, wenn wir den Rahmen nicht in der Lehrveranstaltung schaffen würden.

Grund 3: Feedback durch Übungsaufgaben

Übungsaufgaben sind ein fester Bestandteil meiner Lehrveranstaltungen. Ich nutze eigentlich in jedem Semester welche für die Themeneingrenzung, für das Erstellen von Gliederungen sowie für die Literaturrecherche und das Zitieren. Und immer, wirklich immer, denke ich mir danach: „Wie gut, dass wir diese Übung durchgeführt haben!“ Es ist anderenfalls so leicht, die Inhalte gedanklich „abzunicken“, die der Dozent da gerade präsentiert hat. Diejenigen, die nicht hundertprozentig aufmerksam waren, geben es sowieso nicht zu. Den anderen scheint erst einmal alles eingängig und plausibel, also tauchen keine Fragen auf, und wir würden normalerweise zum nächsten Kapitel übergehen.

Die problematischen Punkte zeigen sich erst, wenn die Studierenden selbst etwas tun müssen, zum Beispiel aus einem Thema eine Fragestellung entwickeln oder für eine Forschungsfrage eine beispielhafte Grobgliederung erstellen. Die vielen verschiedenen Vorschläge erhalten dann hauptsächlich von mir, aber auch von den Mitstudierenden ausführliches Feedback. Das stelle ich mir schwierig oder sogar unmöglich vor, wenn die Inhalte des Wissenschaftlichen Arbeitens nur schriftlich vermittelt würden.

Natürlich könnte ich Übungen mit Lösungen in mein Skript integrieren. Aber siehe Grund 1: Erst durch das Besprechen können wir herausfinden, ob die studentische Lösung korrekt ist und den Anforderungen genügen würde. Mehr als einmal wurde ich überrascht mit Lösungsvorschlägen, die ich so nicht vorhergesehen hatte. Ergo wären diese in meinem Skript nicht als richtig aufgetaucht. Außerdem üben wir uns im Wissenschaftlichen Arbeiten ja bekanntermaßen im divergenten Denken. Es gibt schlichtweg nicht die eine richtige Lösung. Ein Punkt übrigens, der die Studierenden ins Schwitzen geraten lässt, die immer gern gesagt bekämen, ob sie denn alles richtig machen .

Aus studentischer Sicht spricht also vieles dafür, dass sich der Unterricht lohnt. Wie ist es mit den Dozenten?

Der Sinn: In Kontakt bleiben

Durch die Diskussion und den Austausch habe ich schon viel über die Studierenden gelernt. In den drei vorhergehenden Abschnitten habe ich beschrieben, welche Erkenntnisse die Studierenden aus der Lehrveranstaltung ziehen können. Das gilt aber im gleichen Maße für mich!

Durch neu aufgedeckte Missverständnisse, Grund 1, bin ich gezwungen, noch verständlicher und noch eindeutiger zu formulieren. Ich merke, welche Begriffe ich bei meinen Ausführungen nicht einfach voraussetzen kann. Mein Gefühl für das passende Niveau verbessert sich.

Bei den studentischen Tipps, Grund 2, höre ich aufmerksam zu, ob ich nicht noch etwas Neues lernen kann. Öfter merke ich allerdings, dass einige grundlegende Arbeitstechniken (beispielsweise bestimmte Funktionen der Textverarbeitungsprogramme) nicht bekannt sind und sich viele Studierenden unnötigerweise das Leben schwer machen.

Grund 3, die Übungsaufgaben, wiegt für mich am schwersten. Mit keiner anderen Methode kann ich leichter erkennen, ob die Inhalte angekommen sind. Mein Vorgehen im Laufe des Semesters ist jedes Mal ein bisschen anders, und die Übungsaufgaben zeigen mir, wie ich die Inhalte gewichten sollte.

Ich lerne bei den Übungsaufgaben außerdem viel über das Vorwissen der Studierenden, ihren Anspruch an sich selbst und die vielen kleinen Unsicherheiten, die die erste wissenschaftliche Arbeit mit sich bringt. Bei der Besprechung der Lösungen sehe ich, wo es hakt.

Wie ist das bei Ihnen? Welchen Mehrwert bringt Ihnen der Unterricht? Oder empfinden Sie ihn doch eher als Zeitverschwendung?

Aller Anfang ist… sonnenklar?

Bevor ich das erste Mal „Wissenschaftliches Arbeiten“ unterrichten sollte, schien mir alles sonnenklar: Erst einmal ausführlich erklären, wie man Literatur sucht und auswählt. Danach zeigen, wie das Zitieren funktioniert, und abschließend noch besprechen, wie die richtigen Formulierungen eine wissenschaftliche Arbeit aufwerten können. So. Eigentlich alles recht übersichtlich.

Minimalprinzip trifft Maximalprinzip

Viele Studierende gestalteten das Wissenschaftliche Arbeiten für sich auf eine andere Art sehr übersichtlich. Ihre Fragen zielten darauf, den Aufwand zu minimieren. Für sie ging es darum, wie viele Bücher sie nutzen „müssen“ und wie viele Zitate sie pro Textseite verwenden „müssen“. Und überhaupt: Es stehe doch sowieso zu jedem Thema genug im Internet, wozu müsse man da heutzutage noch in eine Bibliothek? Diese Herangehensweise schockierte mich damals. Ich war einfach davon ausgegangen, dass die Studierenden sich (wie ich) (mittlerweile) gern in ein Thema vertiefen, gern viel darüber lesen und dann gern eigene Ideen entwickeln. Wie naiv!

Und nun?

Nach dieser Erkenntnis kam mir die Situation aussichtslos und ja, frustrierend, vor. Wie sollte ich unter solchen Voraussetzungen „Wissenschaftliches Arbeiten“ lehren? Mittlerweile ist mir aber sonnenklar, dass es für mich nur eine Lösung für dieses Problem gibt. Ich erzähle weiterhin in der Lehre aus meiner idealen Welt. Denn verbiegen will ich mich nicht. Und wer weiß, vielleicht ist ja doch der eine oder andere dabei, der ähnlich denkt wie ich. Gleichzeitig ist mir mittlerweile bewusst, dass es in der Welt vieler Studierender anders gelagerte Prioritäten oder auch Sachzwänge gibt. Da geht viel Zeit für den Nebenjob drauf, oder eine Klausur in einem anderen Fach ist wichtiger als die Hausarbeit. Diese Studierenden sind dankbar für jeden Tipp, der ihnen das Leben erleichtert. Also versuche ich, das auch zu berücksichtigen, indem ich erkläre, wo die Minimalanforderungen liegen. Luft nach oben ist schließlich immer.