Woop, woop!

“Wissenschaftliches Arbeiten – woop, woop!”

Überbordende Freude ist keine der üblichen Reaktionen, wenn „Wissenschaftliches Arbeiten“ auf dem Stundenplan steht. Vielmehr hält sich die Freude, glaube ich, eher in Grenzen. Aber was heißt hier eigentlich „glaube ich“?! Ich weiß es. Manche Studierenden sagen es mir sogar ganz offen: „Frau Klein, jetzt mal ehrlich…“
Umso wichtiger finde ich es, mit den Studierenden über Motivation zu sprechen.

Im heutigen Artikel lesen Sie, wie und warum ich zwei bereits hier diskutierte Ansätze (und noch mehr) zusammenführe:

Erstens: Kürzlich habe ich geschrieben, dass ich in relativ früh in der Lehrveranstaltung nicht nur den persönlichen Nutzen des wissenschaftlichen Arbeitens thematisiere, sondern auch die für das Gelingen nötigen, vielfältigen Kompetenzen (klick zum Artikel). Meine Annahme dahinter: Wenn der Nutzen und der zu erwartende Kompetenzzuwachs von vorneherein klar werden, steigt die Motivation.

Zweitens: Vor knapp einem Jahr hatte ich darüber berichtet, wie ich eine schriftliche Vorabfrage in der Lehre nutze. Diese sollte mir dazu dienen sollte, die Studierenden und ihre Schwierigkeiten mit dem wissenschaftlichen Arbeiten besser kennenzulernen (klick).

Es lag nahe, diese beiden Aspekte – die Kompetenzen und das Nutzen einer schriftlichen Vorabfrage – zu kombinieren. Seitdem verwende ich die schriftliche Vorabfrage zu Semesterbeginn auch oder sogar vor allem, um etwas über die Verteilung der Kompetenzen zu erfahren. Das Kennenlernen der Studierenden geschieht damit automatisch.

Rückblick

Zu Beginn meiner Lehrtätigkeit haben ich die Studierenden eingangs mündlich im Plenum gefragt:
1. Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit Wissenschaftlichem Arbeit bislang gemacht?
2. Was erhoffen Sie sich von unserer Lehrveranstaltung?

Das war ganz nett und auch brauchbar, aber eigentlich hat mich etwas Anderes interessiert. Deswegen habe ich vor einigen Semestern auf eine konkretere, schriftliche Vorabfrage umgestellt.

„Vorher“: die erste Version der schriftlichen Vorabfrage

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Merkmale dieser ersten Version:

  • Sie war anonym zu beantworten.
  • Sie enthielt nur zwei Fragen.

„Nachher“: die aktuelle Version der schriftlichen Vorabfrage

woop
Merkmale dieser zweiten Version:

  • Die Studierenden geben sich namentlich zu erkennen.
  • Auch die bei den Studierenden bereits vorhandenen Kompetenzen werden thematisiert.

Wieso habe ich die Vorabfrage geändert?

Beziehungsangebot

Durch das Wegfallen der Anonymität erhoffe ich mir, den ersten Schritt zum Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zu machen. Oder es ist zumindest ein Angebot dafür. Die Studierenden haben es bisher überwiegend angenommen. Jeder gibt so viel preis, wie er oder sie möchte. Ich spreche auch explizit an, dass die Studierenden mir mit dem Beantworten der Fragen einen Vertrauensvorschuss geben. Zum Zeitpunkt des Ausfüllens kennen wir uns meist erst ein bis zwei Stunden.

Von mehreren Hundert ausgefüllten Bögen seit der Umstellung habe ich insgesamt erst einen ohne Namen erhalten, außerdem einen, der zwar mit dem Namen versehen war, in den aber sonst keine Inhalte eingetragen waren. Ansonsten habe ich den Eindruck, dass die Studierenden eher froh über diese (ja, diese neue und ungewohnte) Gelegenheit sind, sich mitzuteilen, und deswegen auch eher gern und ausführlich schreiben.

Augenöffner

Die Frage nach den bereits vorhandenen Kompetenzen aufzunehmen, war die beste Entscheidung. Die ersten Antworten, die ich darauf erhielt, waren ein Augenöffner.

Viele Studierende können so viel mehr als gedacht. Kürzlich habe ich in dem oben verlinkten Beitrag geschrieben:

Die allermeisten Studierende bringen einen guten Teil dieser Kompetenzen schon mit, nur ist es ihnen nicht immer bewusst. Sie lernen also nicht komplett neu, sondern lernen etwas dazu. Wir sollten die Studierenden daher weglenken von Gedanken wie „Ich habe noch nie wissenschaftlich geschrieben, also kann ich nicht schreiben.“ (nicht wahr) und hin zu „Ich habe schon einiges geschrieben. Jetzt lerne ich, wie meine zukünftigen wissenschaftlichen Texte aussehen sollten, um den Ansprüchen zu genügen.“ (wahr).

Ja, es ist den Studierenden nicht immer bewusst, was sie schon alles können. Dennoch habe ich viele überaus reflektierte Auflistungen als Antwort auf eben diese Frage gelesen. Das macht übrigens auch einfach mehr Spaß, als sich ewig nur mit den Defiziten zu beschäftigen. Mittlerweile kommt mir die erste Version der Vorabfrage sehr negativ vor.

Und ja, selbstverständlich denken einige Studierende auch, mehr zu können, als es tatsächlich der Fall ist. Die Selbsteinschätzung muss also nicht mit der Fremdeinschätzung übereinstimmen. Das lässt sich im weiteren Verlauf der Lehrveranstaltung jedoch aufgreifen und bearbeiten.

Weg von der Defizitorientierung

In der Positiven Psychologie habe ich bedenkenswerte Ansätze gefunden, in die ich mich unbedingt noch tiefer einarbeiten möchte. Testweise habe ich seit September die neue Version der Vorabfrage mit einem dieser Ansätze, dem WOOP-Konzept von Gabriele Oettingen, verbunden (hier ein interessanter Link, der in eine ähnliche Richtung geht). Die Buchstaben WOOP stehen für Wish – Outcome – Obstacle – Plan und bringen ein erfolgsversprechendes Vorgehen auf eine gut zu merkende Formel. Sehr kurz erläutert dreht es sich um Folgendes: Nach der intensiven Vorstellung des eigenen Wunsches und dessen greifbaren Ergebnisses befasst man sich mit möglichen Hindernissen und formuliert Pläne für deren Überwindung.

Wie habe ich WOOP mit der Vorabfrage verbunden? Dazu habe ich die Studierenden vor dem Ausfüllen auf einer Art Gedankenreise mitgenommen. Ich habe ihnen anschaulich geschildert, wie auf positive Art und Weise eine wissenschaftliche Arbeit entsteht (im Gegensatz zu so mancher Last-Minute-Arbeit oder zu einer qualvollen Dauer-Arbeit ohne Fortschritt). Diese Schilderung umfasst den kompletten Prozess der Erstellung der Arbeit von Erhalt bzw. Finden des Themas bis hin zur Abgabe. Stark gestrafft dauert das nur wenige Minuten. (Kommentar einer Studierenden: „Ach, wäre das schön, wenn das so liefe!“). Die Elemente „Wish“ und „Outcome“ wären damit abgehakt, „Obstacle“ entspricht den Fragen 2 und 3 in der Vorabfrage. Zum Abschluss der Einheit erläutere ich den Studierenden, was ich gerade mit ihnen gemacht habe. Die individuellen „Plans“, also die Lösungsmöglichkeiten, sind dann im Laufe des Semesters in der Lehrveranstaltung zu thematisieren.

Noch kann ich nicht sagen, ob die Methode funktioniert. Vielleicht werde ich das auch nie können. Der heutige Blogbeitrag ist als eine Art „Werkstattbericht“ zu lesen.

An der Stelle interessiert mich daher:
Hat sich jemand ausführlicher – theoretisch und praktisch – mit dem WOOP-Konzept auseinandergesetzt? Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?

„Das brauche ich nie wieder!“

Doch! Ich möchte laut und deutlich entgegenwerfen: Doch! Natürlich brauchen Sie das. Jeden Tag.

Angesichts der Menge an schriftlichen Arbeiten, die in manchen Studiengängen zu verfassen sind, stöhnen viele Studierende auf und stellen sich die Sinnfrage. Wozu soll das bitteschön gut sein? Wieso werden einem so viele wissenschaftliche Arbeiten abverlangt? Dieses Können braucht man doch nie wieder, wenn man nicht gerade eine wissenschaftliche Karriere einschlagen möchte! Schließlich haben Berufstätige ja wohl in den seltensten Fällen wochen- oder monatelang Zeit, um seitenlange, mit Fußnoten gespickte Arbeiten zu verfassen.

Auch wer nicht „in die Wissenschaft gehen will“, profitiert von dem, was er beim wissenschaftlichen Arbeiten lernt. Für das Studium, für sich selbst als Person, für die Zukunft. In den meisten Berufen, auf die ein Studium vorbereitet, sind genau die Kompetenzen gefragt, deren Erwerb das Anfertigen von wissenschaftlichen Arbeiten so mit sich bringt. Abgesehen davon können Erstsemester noch nicht mit Sicherheit wissen, ob sie nicht doch später wissenschaftlich tätig sein werden.

Schlüssel? Für welche Tür eigentlich?

Bekanntermaßen handelt es sich beim wissenschaftlichen Schreiben um eine Schlüsselkompetenz. Man lernt also etwas, was allgemein und überfachlich von Nutzen ist, um besser mit dem fachlichen Wissen umgehen zu können. Wer bestimmte Schlüsselkompetenzen erworben hat, kann auch neuartige Probleme lösen. Damit gelingt es, handlungsfähig zu bleiben, obwohl man mit dem aktuellen Problem noch nie konfrontiert war und demnach die Lösung dafür erst einmal finden muss.

Schauen wir doch einmal genauer hin, was die Studierenden durch die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Arbeiten lernen. Ich greife ein paar Aspekte heraus:

  • die passende Herangehensweise an eine Fragestellung aus vielen möglichen Herangehensweisen auszuwählen
  • die Lösungsstrategie für ein Problem nicht nur zu planen, sondern auch umzusetzen
  • große Mengen an Text und Informationen zu finden, aufzunehmen und weiterzuverarbeiten
  • abstrakt, vernetzt, analytisch und kreativ zu denken
  • diese Gedanken nachvollziehbar zu präsentieren
  • schlüssig zu argumentieren
  • komplexe Sachverhalte verständlich und anschaulich darzustellen.

Nebenbei schulen sie ihre Ausdauer und Sorgfalt sowie ihre Fähigkeiten in Zeitmanagement und Organisation. Eigenver­antwortung und Selbständigkeit werden auch noch gefördert. Schließlich handelt es sich bei der Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit um eine komplexe Aufgabe, die anfangs oft nicht überschaubar ist und die man nach mehreren Wochen, Monaten oder sogar Jahren zu Ende bringt, auch wenn man gedanklich vielleicht noch gar nicht mit ihr fertig ist. Dabei lernt man das Durchhalten, das Aushalten von Durststrecken sowie den Umgang mit Gegenwind und Selbstzweifeln. Für das persönliche und berufliche Fortkommen sind alle genannten Fähigkeiten hilfreich.

Eine Abstraktionsebene tiefer lassen sich noch die erlernten Techniken anführen, beispielsweise Recherchetechniken, Lesetechniken oder Schreibtechniken. Oder ganz banal das technisches Wissen über die Tücken der Textverarbeitung.

Die Schlüsselkompetenz „Wissenschaftliches Arbeiten“ schließt ziemlich viele Türen auf, würde ich meinen.

(Wie) Lässt sich der Nutzen in der Lehre vermitteln?

Ulmi et al. haben all das und noch viel mehr in einer Übersichtsgrafik zusammengeführt, die ich seit kurzem auch in der Lehre verwende.

ulmi_komponenten-der-schreibkompetenz

Ich nehme diese Abbildung als Gedankenanstoß für die Studierenden. In einer Art Soll-Ist-Abgleich denken sie darüber nach, was sie schon können und was sie noch lernen müssen, um gute wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben. (Wie das in etwa geht, habe ich hier beschrieben) Die damals formulierte Vorabfrage habe ich mittlerweile erweitert und umformuliert – auch noch aus anderen Gründen, aber das ist ein komplett neues Thema). Der Nutzen des wissenschaftlichen Arbeitens wird dadurch indirekt sichtbar. Denn die Studierenden erkennen, was sie lernen werden und welche Kompetenzen sie entwickeln werden.

Die allermeisten Studierende bringen einen guten Teil dieser Kompetenzen schon mit, nur ist es ihnen nicht immer bewusst. Sie lernen also nicht komplett neu, sondern lernen etwas dazu. Wir sollten die Studierenden daher weglenken von Gedanken wie „Ich habe noch nie wissenschaftlich geschrieben, also kann ich nicht schreiben.“ (nicht wahr) und hin zu „Ich habe schon einiges geschrieben. Jetzt lerne ich, wie meine zukünftigen wissenschaftlichen Texte aussehen sollten, um den Ansprüchen zu genügen.“ (wahr).

Den Nutzen auch aktiv sichtbar machen

Als Lehrende sollten wir diese Reflexionsprozesse anstoßen und in der Vorlesung verankern. Sie sollen einen festen Platz bekommen, weil sie so wichtig sind für alles Weitere.

Deswegen spreche ich das Thema zusätzlich aktiv und im Laufe des Semesters auch mehr als einmal an. (Am Anfang meiner Lehrtätigkeit habe ich abgewartet, ob es von den Studierenden jemand anspricht – und immer auch ein bisschen gehofft, dass es keiner tut. Es hat eine Weile gedauert, bis ich eine befriedigende Antwort geben konnte.) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den eventuell vorhandenen Widerstand gegen das Fach „Wissenschaftliches Arbeiten“ mindert, wenn ich den Nutzen von Anfang an thematisiere und anschließend den zu erwartenden Kompetenzzuwachs verdeutliche.

Bei all dem spielt es für mich übrigens keine Rolle, um welche Art von Hochschule es sich handelt. Wissenschaftliches Arbeiten ist an einer Universität so wichtig wie an einer Fachhochschule. An Berufsakademien kommt noch ein ganz anderes Feld hinzu, die Verknüpfung mit der Praxis und der Nutzen für die Praxis. Oder um im Bild mit dem Schlüssel zu bleiben: Die Türen sind ein bisschen unterschiedlich, aber Türen sind es letztlich alle.

Positive Erfahrungen ermöglichen

Das Verdeutlichen des Nutzens ist die Voraussetzung für das Entstehen von Motivation und Freude. Wenn dann noch positive Erfahrungen mit dem wissenschaftlichen Arbeiten hinzukommen, lässt sich darauf wunderbar im Laufe des Studiums aufbauen.

Es liegt auf der Hand, dass das in Lehrveranstaltungen nicht gelingen wird, in denen immerzu nur die Rede ist von „Sie müssen aber…!“ und „Sie dürfen aber auf gar keinen Fall…!“ Unsere Aufgabe als Lehrende ist es, positive Erfahrungen zu ermöglichen.

10 untrügliche Anzeichen, dass Ihr Unterricht nicht ankommt

In Ihrer Vorlesung

1. Die Fragen der Studierenden drehen sich ausnahmslos um Dinge, von denen Sie meinten, sie beim vergangenen Termin bereits ausführlich besprochen zu haben.

2. Ihnen passiert, was ich hier beschrieben habe: Der BTDT-Effekt. Sie lösen Probleme, die für Ihre Studierenden gar keine Probleme sind.

3. Es wird plötzlich ganz still, und Sie sehen nur noch Scheitel. Dabei haben Sie lediglich gefragt, wer mit seiner wissenschaftlichen Arbeit schon begonnen hat: Abgabefristen und Zeitmanagement

In Ihrer Sprechstunde

4. Alle kommen in die Sprechstunde. Und alle stellen sehr grundsätzliche Fragen. Wirklich grundsätzliche Fragen.

5. Niemand kommt in die Sprechstunde. (Oder das hier ist der Grund dafür: „Warum ist er denn nie in die Sprechstunde gekommen?“)

In Ihrem E-Mail-Postfach

6. Studierende fragen, wie viele Quellen sie angeben müssen: Meine persönliche Hassfrage

7. Studierende fragen, ob sie die Quelle auch angeben müssen, wenn sie „nur“ paraphrasieren.

Während der Korrektur

8. Sie können an den Texten das komplette Bietschhorn-Modell abarbeiten: Ulmi et al.: Wer hat’s gefunden?

9. Ihre geheime Stilblüten-Sammlung wächst und wächst und wächst. Da hat wohl jemand nicht genügend Zeit zum Überarbeiten eingeplant: Überarbeiten – Vom Aufräumen zum Dekorieren, Gastbeitrag bei „Statistik und Beratung“.

10. Ihre Bürokollegin sucht das Weite: Wie Sie Hausarbeiten korrigieren und trotzdem glücklich bleiben?

 

Sie dürfen die Liste in den Kommentaren gern fortführen.

11. ?

 

Der BTDT-Effekt in der Lehre, und wie Sie gleich zu Semesterbeginn gegensteuern

Es gab einmal eine Gruppe, in der ich furchtbar auf die Nase gefallen bin. Das liegt schon einige Semester zurück, aber es ist mir lange nachgegangen.

Was war passiert?

Ich hatte eigentlich alles wie immer gemacht. Auf die bewährte Vorgehensweise gesetzt und die erprobten Übungen verwendet. Genau das war das Problem, wie sich später herausstellen sollte.

Im Laufe des Semesters wurde es immer unruhiger im Kurs. Die Zahl der Nebengespräche nahm zu, die Arbeitsaufträge wurden nur unwillig erledigt, auch wurden immer weniger Fragen an mich gerichtet. Kurzum: Es ging nicht mehr vorwärts. Ich erreichte die Studierenden nicht mehr.

Ich ließ es zu einem reinigenden Gewitter kommen. Daran konnte ein klärendes, konstruktives Gespräch mit der Gruppe anschließen, in dem mir eines klar wurde:

Standardrezepte funktionieren in Standardgruppen.

Ich hatte schlichtweg versäumt, dass es sich in diesem speziellen Semester nicht um eine solche handelte. Diese Gruppe war anders als die bisherigen, und das besagte Problem entstand, weil sie einer Art kollektivem Missverständnis erlegen war. Diese Studierenden nahmen an – aus welchen Gründen auch immer – , dass unsere Veranstaltung im ersten Semester eine Verlängerung ihrer Schulzeit war. Sie fühlten sich überfahren von dem Tempo, das ich vorlegte. Sie kamen nicht damit klar, dass jetzt viel mehr Eigeninitiative gefragt war. Sie hatten die Anspruchshaltung, alle Inhalte von A bis Z schön aufbereitet präsentiert zu bekommen, ohne sich auch nur ein kleines Bisschen selbst erarbeiten zu müssen. Modell Trichter.

Hätte ich das gewusst, wäre ich anders an die Sache herangegangen. Dann hätte ich mir am Anfang der Veranstaltung mehr Zeit genommen, um über Selbstverantwortung im Studium zu reden.

Aber: Hätte ich es wissen können? Hätte ich es besser wissen müssen?

Achtung Routine!

Gerade wenn sich nach einigen Semestern die Routine einschleicht und man die Veranstaltung im x-ten Durchlauf gehalten hat, lauert die Gefahr in Form einer Scheinsicherheit:

  • „Ich weiß doch genau, wen ich da vor mir habe.“
  • „Der da hinten tut nur so, als würde er zuhören.“
  • „Ich ahne schon, welche Frage als nächstes kommt.“
  • „Und nächste Woche will sie wieder wissen, ob ihre Gliederung richtig war.“

Ich nenne das den BTDT-Effekt – „Been there, done that“.

Fehlt nur noch „Got the T-shirt“. Alles kommt einem bekannt vor, alles hat man schon einmal – ach was, ein Dutzend Mal – erlebt. Gähn. Kein Wunder, dass man da in einen Trott verfällt.

Als ich diesen Effekt an mir bemerkte, war es an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Natürlich habe ich nicht gleich das Gesamtkonzept über den Haufen geworfen. Aber zumindest die nächste Auftaktveranstaltung wollte ich anders gestalten. Das Ziel: mehr über die Studierenden erfahren.

Wie hatte ich bisher den Einstieg gestaltet?

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in der ersten Lehrveranstaltung meist durch eine mündliche Abfrage versucht, etwas näher herauszubekommen, wen ich da so vor mir habe. (Mehr zur ersten Lehrveranstaltung finden Sie hier).

Meine Fragen an die Studierenden lauteten dabei:

  1. Welche Erfahrungen haben Sie mit Wissenschaftlichem Arbeit bislang gemacht?
  2. Was erhoffen Sie sich von unserer Lehrveranstaltung?

Das war entweder in die Vorstellungsrunde integriert oder ein separater Punkt danach. Mitunter führte das zu grotesken Situationen, die doch sehr an Sketche über Selbsthilfegruppen erinnerten: „Ich heiße Timo Müller und habe keine Ahnung vom wissenschaftlichen Arbeiten.“ (Gruppe: „Hallo, Timo!“)

Natürlich habe ich auch auf diese Art und Weise viel über die Studierenden erfahren. Sonst hätte ich es ja auch nicht jahrelang so praktiziert.

Außerdem konnten die Studierenden direkt in der ersten Stunde ihre Mitstudierenden kennenlernen. Sie erlebten dabei oft, dass sie selbst nicht die einzige Person im Raum sind, die noch keine Ahnung hat und alles von Grund auf lernen muss. Manche nehmen ja zu Studienbeginn an, dass alle anderen so viel klüger sind als sie selbst.

Wie könnte die Alternative aussehen?

Wir wollen also eine möglichst ehrliche Auskunft von den Studierenden erhalten.

Optimal wäre ein Weg,

  • bei dem genügend Zeit wäre, um über seine Antwort nachzudenken
  • bei dem auch die ruhigen Studierenden ausreichend zu Wort kämen
  • bei dem wir echte eigene Antworten der einzelnen Studierenden bekämen und reines Nachplappern vermeiden könnten.

Eine Methode erfüllt alle genannten Punkte: die schriftliche Abfrage.

Dazu drucken Sie in ausreichender Anzahl Bögen mit den Fragen, die Sie interessieren. Ich habe beispielsweise die folgenden beiden Fragen benutzt:

Wenn Sie jetzt direkt beginnen müssten, Ihre erste wissenschaftliche Arbeit zu verfassen:

  1. Vor welchen Schwierigkeiten würden Sie konkret stehen?
  2. Welches Wissen und welche Fähigkeiten fehlen Ihnen derzeit noch?

Diese Bögen verteilen Sie an die Studierenden und geben ihnen genügend Zeit, um ihre Antwort zu verfassen. Sie selbst wiederum nehmen sich dann auch einen ruhigen Moment, um die Bögen zu lesen und auszuwerten.

Ich habe das anonym ablaufen lassen, um möglichst ungeschönte Antworten zu bekommen.

Zu einem geeigneten Zeitpunkt in der Lehrveranstaltung besprechen Sie mit der Gruppe die (gefilterten) Ergebnisse.

In der eingangs erwähnten Gruppe hätte diese Methode wahrscheinlich das Problem nicht komplett abgefangen. Vermutlich hätte ich aber bessere Anknüpfungspunkte gewonnen.

Bessere Ergebnisse?

Als ich diese Methode das erste Mal nutzte, erhielt ich neben den erwarteten Antworten auch ein paar neue Einblicke.

Wie die üblichen Antworten lauteten, können Sie sich denken:

  • „Wo fange ich denn da überhaupt an?“
  • „Wie erstelle ich eine Gliederung?“
  • „Worauf kommt es inhaltlich an? Wie kann ich herausfinden, was relevant und was irrelevant ist?“
  • „Ich möchte wissen, wie ich die Arbeit formatieren soll.“
  • „Wie soll ich mir meine Zeit einteilen?“

So weit, so gut. Es gab aber auch diese Antwort:

  • „Ist Zitieren erlaubt?“

Natürlich wäre im Verlauf des Semesters ohnehin schnell deutlich geworden, dass Zitieren nicht nur erlaubt, sondern sogar zwingend nötig ist. Ich hätte allerdings gedacht, dass sich das unter Erstsemestern schon herumgesprochen hat. So zeigte mir diese Frage, dass man eben nichts als selbstverständlich voraussetzen sollte. Ein wertvoller Einblick. Und für den Studierenden freut mich, dass er eine solche Frage loswerden konnte, ohne sich zu blamieren.

Dann wiederum las ich auch eher „fortgeschrittene“ Antworten, die ich in einem ersten Semester nicht erwartet hätte:

  • „Ist die wissenschaftliche Arbeit ähnlich wie Textsorten, die ich schon kenne (Analyse, Interpretation, Aufsätze)?“
  • „Wie gestalte ich die Übergänge zwischen den Kapiteln?“
  • „Wie kann ich die Arbeit spannend gestalten, so dass man Lust hat weiterzulesen?“

Es bestätigt sich wieder einmal: Die Studierenden kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.

Manche von ihnen schweigen in einer mündlichen Abfrage, weil sie in der ersten Lehrveranstaltung nicht aus der Gruppe herausstechen wollen, weder negativ noch positiv. Die anonyme schriftliche Variante liefert andere und, wie ich finde, bessere Ergebnisse.

Fazit: Wer sich mit seiner Lehrveranstaltung im Wissenschaftlichen Arbeiten als Problemlöser versteht, sollte zuerst einmal das Problem verstehen.