Hand aufs Herz, haben Sie in einer schwachen Stunde nicht auch schon einmal gedacht, dass wir eigentlich ganz schön viel Aufwand betreiben, um den Studierenden die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens nahezubringen? Wir halten Vorlesungen oder veranstalten Workshops, wir beraten die Studierenden und geben Textfeedback. Muss das sein? Muss das wirklich sein?
Oft werden Stimmen laut, die genau diese Frage auch stellen. Vielfältige Argumente werden für eine Kürzung oder Streichung der Veranstaltung „Wissenschaftliches Arbeiten“ vorgebracht oder sorgen dafür, dass sie gar nicht erst angeboten wird.
Ich habe hier einmal die fünf Aussagen zusammengestellt, die mir bisher am häufigsten begegnet sind.
1) „Unser Leitfaden zum wissenschaftlichen Arbeiten ist doch aussagekräftig genug.“
Die dahinterliegenden Gedanken lauten: In dem Leitfaden unserer Hochschule (wahlweise: unserer Fakultät, des Lehrstuhls usw.) steht doch nun wirklich alles haarklein drin. Die Studierenden müssen es einfach lesen und umsetzen. Wer das nicht schafft, hat sich nur nicht genug angestrengt. Und bitte, das wird man ja von angehenden Akademikern wohl verlangen dürfen!
Problematisch wird das durch die beiden folgenden, eng zusammenhängenden Punkte.
Erstens, allzu oft liegt der Fokus in solchen Leitfäden auf den formalen Aspekten der Gestaltung einer wissenschaftlichen Arbeit. (Gab es dazu nicht einmal eine Inhaltsanalyse? Irgendwo – aber wo? – habe ich davon gelesen.) Schriftgrößen, Zeilenabstand, Seitenränder, Zitierregeln. Dafür müssen wir wirklich nicht unbedingt einen Workshop durchführen.
Zweitens, mit der Überbetonung der Formalia in den Leitfäden geht die Vernachlässigung der inhaltlichen Seite des wissenschaftlichen Arbeitens einher. Was macht Wissenschaft aus, wie kommt sie zu ihren Ergebnissen? Wieso muss ich aus dem Thema eine Fragestellung entwickeln? Wie baue ich meine Arbeit logisch auf? Wie stelle ich meine Aussagen in den Kontext meines Faches? Gerade Studienanfängern fällt es sehr schwer, die genannten Punkte zu verstehen und vor allem, sie umzusetzen. DAS sind also die Fragen, über die wir mit den Studierenden reden müssen! Ja, reden, im Sinne eines Austauschs. (Wieso der Unterricht mehr bringt als ein Leitfaden)
Einen dritten Punkt, den Prozess des Schreibens, haben wir jetzt noch komplett außen vor gelassen. Der wird in den klassischen Leitfäden nämlich sowieso nicht abgedeckt.
2) „Früher gab es diese Veranstaltung auch nicht, und wir haben trotzdem unsere wissenschaftlichen Arbeiten geschrieben.“
Waren unsere schriftlichen Ausarbeitungen wirklich alle so brillant, dass wir nicht von einer Veranstaltungen zum Wissenschaftlichen Arbeiten profitiert hätten? Hatten wir nie Probleme mit dem Schreiben? Lief bei uns immer alles gut? (Zu den beiden Dimensionen Ergebnis und Prozess komme ich im nächsten Punkt ausführlicher.)
Der Vergleich mit früheren Zeiten ist außerdem auch aus einem anderen Grund ein bisschen unfair. Es hat sich im Hochschulsystem ja doch einiges geändert, seit die meisten von uns Lehrenden selbst studieren haben. Früher, damit meine ich die Zeit vor den Bologna-Reformen, waren die Studienpläne nicht so eng getaktet. Wir hatten (zumindest gefühlt) mehr Zeit: Zeit zum Lesen, Zeit zum Schreiben, Zeit zum Ausprobieren.
3) „Wenn die Studierenden heute so viel Hilfe haben, müssen ja tolle Arbeiten herauskommen!“
Hierbei handelt es sich um eine Variante des zuvor beschriebenen Arguments: Wenn sich die Studierenden das wissenschaftliche Arbeiten noch nicht einmal mehr selbst beibringen müssen und wir ihnen so viel Hilfe geben, müssten sie ja eigentlich ganz besonders hervorragende Arbeiten schreiben. Das Argument behauptet also indirekt, dass die Lehrveranstaltung nichts bringt, weil die Qualität der Arbeiten nicht gestiegen oder sogar „trotzdem“ gesunken ist.
Vorsicht! Hier werden Arbeiten von früher (ohne gesonderte Lehrveranstaltung zum Wissenschaftlichen Arbeiten) mit Arbeiten von heute (mit angeblich zu viel Lehre zum Wissenschaftlichen Arbeiten) verglichen. Dass auch andere Rahmenbedingungen sich geändert haben, wird dabei genauso außer Acht gelassen wie der Umstand, dass die Studierenden andere Voraussetzungen mitbringen (oh je, ein weites Feld!)
Die interessante und richtigere Frage wäre natürlich: Wie würden die heutigen studentischen Arbeiten ohne Lehrveranstaltung „Wissenschaftliches Arbeiten“ aussehen? Das kann niemand wissen.
Das Ergebnis ist außerdem nicht alles. Der einseitige Blick (der Lehrenden) auf das Produkt des Schreibens verstellt den Blick auf die Phase der Texterstellung. Neben dem Ergebnis spielt bekanntermaßen auch der Schreibprozess eine wichtige Rolle, zumindest aus der Sicht der Studierenden. Die einschlägigen Erkenntnisse aus der Schreibprozessforschung haben sich – zumindest unter den Fachlehrenden – noch nicht überall herumgesprochen. Entschuldigung, jetzt musste ich laut lachen, als ich „noch nicht überall“ geschrieben habe. Richtiger wäre wohl „sie haben sich noch fast gar nicht herumgesprochen“.
Dürfen wir den Studierenden nicht die Arbeit erleichtern und sie entlasten, indem wir diese Erkenntnisse teilen und mit ein paar Mythen aufräumen, die das Schreiben umranken?
4) „Das lernen die Studierenden alles schon in der Schule.“
Richtig, erste Kenntnisse im Wissenschaftlichen Arbeiten bringen viele Studierende schon aus der Schule mit.
In Deutschland müssen bzw. dürfen Schülerinnen und Schüler eine längere schriftliche Ausarbeitung abgeben, die so genannte Facharbeit (je nach Bundesland ist das anders geregelt, hier geht es zum Überblick). In Österreich sind die VWAs, die Vorwissenschaftlichen Arbeiten, mittlerweile ein verpflichtender Teil der Matura, gleiches gilt für die Maturaarbeiten in der Schweiz.
Was in den Schulen zum Wissenschaftlichen Arbeiten gelehrt wird, kann nur allgemein und niemals fachspezifisch sein. Demnach vermittelt es nicht die Besonderheiten der später studierten Disziplin und ist auch nicht erkenntnistheoretisch eingebettet. Die Anleitung in der Schule hängt zudem stark von dem fachlichen Hintergrund und den Vorlieben des betreuenden Lehrers ab. Manches wird auch schlichtweg falsch vermittelt oder zumindest falsch verstanden. Ich bekomme das als Lehrende mit, wenn ich im ersten Semester die Dinge wieder geraderücken muss.
5) „Es gehört zu einem Studium einfach dazu, sich das Wissenschaftliche Arbeiten selbst beizubringen.“
Keine Frage, die Studienanfänger müssen sich beim Wechsel von der Schule an die Hochschule umstellen. Mehr Eigenständigkeit und Eigeninitiative sind jetzt gefordert. Das Wissen wird nicht mehr in leicht konsumierbaren Einheiten serviert. Völlig einverstanden!
Gehen wir einmal anders herum dran: Sagt man zu Auszubildenden im Bäckerberuf eigentlich auch „Wir zeigen Euch jetzt mal, wo die ganzen Zutaten stehen. Wie man daraus ein leckeres Brot herstellt, werdet Ihr Euch dann ja wohl noch selbst erschließen können?“
Ein Bäcker und ein Akademiker bewegen sich zwar auf unterschiedlichem Level und müssen recht unterschiedliche Dinge leisten. Aber sagt das „Selbst-Erarbeiten“-Argument nicht doch etwas ziemlich Ähnliches? – „Bringe Dir selbst bei, was den Kern Deiner Tätigkeit ausmacht.“
Nehmen wir ein zweites Beispiel. Welche Gründe spielen eine Rolle, wenn ein Unternehmen für eine bestimmte Stelle einen BWLer mit Hochschulabschluss dem Kaufmann mit IHK-Abschluss vorzieht? Die grundlegenden fachlichen Inhalte, die beide Personen mitbringen, sollten relativ ähnlich sein (auch wenn man das nicht überall laut sagen darf). Die wesentlichen Unterschiede liegen in der erwarteten Fähigkeit zum kritischen Reflektieren dieser Inhalte und im Umgang mit neuen, komplett unbekannten Anforderungen. Von einem Akademiker wird erwartet, dass er diese mit Hilfe seiner Methodenkenntnisse besser meistern kann.
Ist es nicht paradox, dass man sich im wissenschaftlichen System gerade „Wissenschaft“ selbst beibringen soll? Wo sonst soll man es denn lernen? Ich könnte gelten lassen, dass man einem Autodidakten keinen Kurs in Autodidaktischem Lernen angedeihen lassen will. Aber ernsthaft, Wissenschaftliches Arbeiten in einem wissenschaftlichen Studium? Das sollte doch drin sein. (Hier geht’s zum Manifest.)
Fazit
Diejenigen, die gegen eine Lehrveranstaltung „Wissenschaftliches Arbeiten“ argumentieren, haben oft ein schräges Bild von den Inhalten. Sie richten außerdem ihren Blick hauptsächlich auf die Qualität des Ergebnisses, also die Qualität der studentischen Arbeiten, und vernachlässigen die vielen Möglichkeiten der Unterstützung im Schreibprozess.
Noch wichtiger: Wenn die Integration der Studierenden in das Wissenschaftssystem reibungsloser gelingt, profitieren letztlich alle. Dazu ist es nötig, sich mit den Studierenden darüber auszutauschen, was Wissenschaft ausmacht und wie sie zu neuen Erkenntnissen gelangt.
Welche Argumente gegen die Lehre des Wissenschaftlichen Arbeitens kommen Ihnen zu Ohren? Schreiben Sie jetzt einen Kommentar.