Welche Haltungsschäden haben Ihre Studierenden so?
Das geht Sie nichts an, meinen Sie?
Ok, natürlich meine ich damit keine körperlichen Schäden. Ich meine vielmehr die Haltung, die die Studierenden an den Tag legen, wenn sie wissenschaftlich arbeiten.
Eine forschende Haltung einnehmen
Unter einer Haltung wird gemeinhin eine tief verwurzelte Einstellung verstanden, die das Denken und Handeln prägt. Für sinnvolles wissenschaftliches Arbeiten – das ist hoffentlich unstrittig – ist das Einnehmen einer forschenden Haltung förderlich. Das bedeutet, dass die Studierenden etwas erkunden sollen und nach neuen Erkenntnissen suchen.
Und hier beginnt auch schon gleich das Problem. Wenn Sie zu Ihren Studierenden sagen, dass diese einen Sachverhalt erkunden sollen, ist das missverständlich und wird daher leider oft auch tatsächlich missverstanden. „Erkunden“ kann (auch) verstanden werden als das Zusammenstellen von bereits vorhandenen Inhalten. Diese sind für die Studierenden zwar subjektiv neu. Aber aus der Perspektive der Wissenschaft handelt es sich um Altbekanntes, das in etwa so spannend ist wie eine abgemalte Landkarte. Die Studierenden fühlen sich derweil wie ein Mensch, der als Erster ein unbekanntes Stück Land betritt und es kartographiert.
Forschen bedeutet, sich um neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu bemühen, so steht es im Duden. Ich halte das Wort „bemühen“ hier für ausschlaggebend. Wer sich bemüht, bekommt am Ende vielleicht, aber auch nur vielleicht, ein Ergebnis heraus. In anderen Kontexten bereitet das Probleme und wird als Scheitern gewertet („er war stets bemüht“), im Forschungsprozess ist es jedoch ziemlich normal. Es mag also sein, dass am Ende des Forschens viele neue Fragen aufgetaucht sind, während die Ausgangsfrage vielleicht schon gar nicht mehr relevant erscheint. Das Zusammenstellen bekannter Inhalte nimmt im Forschungsprozess wenig Raum ein, außer selbstverständlich beim Aufbereiten des Forschungsstandes.
Die schulische Haltung ablegen
Das Einnehmen einer forschenden Haltung geschieht bei den Studierenden nicht von heute auf morgen. In der gemeinsamen Arbeit ist daher ein langer Atem nötig, um sie ihr schulisches Denken ablegen zu lassen. Das Denken in Fragen muss zunächst eingeübt und im Lauf des Studiums immer wieder aufgefrischt werden.
Um die Studierenden zu einer forschenden Haltung zu führen, ist es unabdingbar, dass die Lehrperson ebenfalls eine forschungsförderliche Haltung einnimmt. Sie muss sowohl in der Lehre als auch in der Beratung von Studierenden Fragen und Uneindeutigkeit den Vorrang geben vor vermeintlich sicheren Erkenntnissen. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, ist auch in Prüfungssituationen verstärkt auf die Fragen zu achten, die Studierende stellen, als auf reproduziertes Wissen.
Weiterführende Links
Zwei Artikel über Lehrveranstaltungen zum empirischen Forschen: „Empirisch forschen 101“ http://www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de/empirisch-forschen-101/ und „Empirisch forschen revisited“ http://www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de/empirisch-forschen-revisited/
Ein Artikel über die Ausgestaltung von Fragestellung bzw. Forschungsfragen: „Fragen über Fragen“: http://www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de/fragen-ueber-fragen/
Die Rezension des Sammelbandes „Forschendes Lernen“ von Mieg und Lehmann (Hrsg.)
http://www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de/mieg-lehmann-erneuerung-durch-forschendes-lernen/
Liebe Frau Klein
Diesmal bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Meine Erfahrung zeigt, dass Studierende zu oft und zu früh eine forschende Haltung einzunehmen versuchen und sich dabei masslos überfordern. Sie finden das Wiedergeben bestehenden Wissens langweilig und denken sich, dass die Betreuungsperson das alles schon weiss. Anstatt erst einmal die Kompetenzen des Zusammentragens und Berichtens zu üben (in sog. Literaturarbeiten), denken sie, dass sie bereits mit neuen Erkenntnissen aufwarten müssen. Das ist, laut Studienplänen, selten der Fall. Klar, eine forschende/fragende Haltung schadet niemandem, aber die Studierenden müssen auch realistisch bleiben und zuerst die grundlegenden Kompetenzen einüben und sich in einem weitläufigen Forschungsdiskurs orientieren lernen.
Lieber Herr Wymann,
herzlichen Dank für Ihren Kommentar.
Vielleicht habe ich das im Artikel missverständlich formuliert. Ich meinte nicht, dass das Zusammentragen und Berichten entfallen soll. Ich halte wie Sie die Fähigkeit, das zu tun, für einen wesentlichen Bestandteil einer gelungenen wissenschaftlichen Arbeit. Ich denke allerdings, dass auch das Zusammentragen und Berichten einen klaren Fokus braucht und somit eine Fragestellung verfolgt – womit wir wieder nahe an der forschenden Haltung sind.
Mir ist klar, dass ich hier zwei unterschiedliche Arten von Fragestellungen vermische. Mir geht es jedoch insgesamt um die fragende/forschende Haltung. Wenn ich durch die Lehre dazu beitragen kann, dass Neugier auf die Inhalte und Fragen des Fachs und ein „Wissen-Wollen“ entstehen, würde ich das jederzeit einer guten Literatur Review vorziehen. Der von Ihnen erwähnten Überforderung durch unrealistische Ansprüche entgegenzuwirken, gehört dabei zu meinen Aufgaben als Lehrperson.
Ihr Kommentar regt mich an, meine Argumentation weiter zu schärfen. Dafür bin ich Ihnen dankbar.